Ein Spielraum zwischen Bild und Ton

WIRKLICHKEIT IM KINO Verfremdung, Nachinszenierung und der Verzicht auf Unmittelbarkeit tun dem Dokumentarfilm gut: zur Filmreihe „Performing Documentary“ im Arsenal Kino

„Performing Documentary“ präsentiert eine Schule der Vorsicht und der Skepsis

VON EKKEHARD KNÖRER

Michael Berger ist ein österreichischer Hedgefonds-Manager, der sich Ende der Neunziger mit Millionen verzockt hat. Er ist eine reale Person. „Michael Berger: Eine Hysterie“ von Stefan Fürhapter ist ein dokumentarischer Film über ihn. Man erfährt vieles darin über sein Leben, Anekdotisches aus Schulzeiten, den Abbruch des Studiums, die Chuzpe und die kriminelle Energie, mit der er sich in New York neu erfand. Er wettete auf das Platzen der Dotcom-Blase, jedoch platzte, ein Fall ganz schlechten Timings, sein pyramidal aufgebauter Fonds selbst knapp davor.

All das wird auf der Tonspur erzählt, man sieht auf der Bildspur Bilder von Schauplätzen, von denen im Kommentar auch die Rede ist. Was man nicht sieht, ist ein einziges Bild von Michael Berger. Was man nicht hört, sind Stimmen von Bekannten und Freunden. Die Erzählung der Fakten ist voller Schleifen, chronologisch durcheinander, macht zwischen zur Sache Gehörigem und eher Irrelevantem keinen Unterschied, setzt nach Schwarzblenden mehrmals neu an, wiederholt sich. Die lineare Struktur wird zerlegt. Zwischen Bild und Ton bleibt stets ein gewisser Spielraum, eine Unsicherheit des genauen Bezugs.

„Performing Documentary“ steht über der Serie von Filmen, die Birgit Kohler für das Arsenal kuratiert hat und als neue Tendenz des Dokumentarischen vorstellt. Hier kommen Filme zusammen, die Wirklichkeit dokumentieren, von den „Fliege an der Wand“-Prämissen des klassischen dokumentarischen Kinos jedoch weit entfernt sind. Fürhapters „Michael Berger“ wäre ohne den viel zu früh verstorbenen Gerhard Friedl und sein Meisterwerk „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ nicht denkbar. In noch komplexerer Weise werden bei Friedl kühl ausgesprochene Fakten und darauf kaum je eindeutig beziehbare Bilder zu einem Panorama deutscher Wirtschaftsverbrechen – oder deutscher Wirtschafts- als Verbrechensgeschichte – montiert. Wirklichkeit erscheint hier als etwas, das im selben Zug, in dem es greifbar wird, sich sofort wieder entzieht.

Was die Filme der Reihe verbindet, ist der Bruch mit der Unmittelbarkeit. Tina Leisch filmt in „Gangster Girls“ Insassinnen eines österreichischen Frauengefängnisses. Sie filmt sie jedoch einerseits bei den Proben zu einem Theaterstück, das sie selbst inszeniert. Andererseits sprechen die Frauen direkt in die Kamera und erzählen von ihren Taten, ihrem zwischenmenschlichen Alltag in der Anstalt und ihrer Haltung zum Leben. Sie bleiben dabei jedoch unter den Perücken, die sie im Stück tragen, und unter der Theaterschminke maskiert. Die Szenen, in denen man sie sieht, wirken stark inszeniert. Der Effekt ist ein doppelter: Die Frauen bleiben als Individuen identifizierbar, zugleich bleibt ein Schutzraum des Intimen gewahrt, den der Dokumentarfilmer sonst in der Regel und wie vorsichtig auch immer doch einer Öffentlichkeit zugänglich macht: Es ist die eigene Haut, die man vor der Kamera zu Markte trägt.

In noch stärkerer Weise verfremdet Anja Salomonowitz in „Kurz davor ist es passiert“ die Realität. Sie hat nach Aussagen von am europäischen Frauenhandel Beteiligten ein Drehbuch geschrieben, das sich an die Wirklichkeit hält. Jedoch treten nicht die Akteurinnen und Akteure ihrer eigenen Geschichten als sie selbst auf. Das Dokumentarische wird vielmehr von Männern und Frauen performt, die auf die eine oder andere Weise einen Bezug zum Thema Frauenhandel und Prostitution haben. Sie sprechen aber nicht identifikatorisch, sondern entleeren den Text, trennen ihn von sich ab durchs Monotone ihres Vortrags. Der Dokumentarfilm wird so in Richtung Spielfilm geschoben und verharrt im Dazwischen: keine Fiktion, sondern rezitierte Wirklichkeit. Jeder Satz, jede Szene genau recherchiert, auf realen Sätzen und realen Szenen beruhend, jedoch nachgespielt.

Weitere Spielarten der Verfremdung, die sich als Effekt des Bruchs zwischen Wirklichkeit und Darstellung einstellt: Romuald Karmakar, der in „Hamburger Lektionen“ den Vortrag eines islamischen Hasspredigers von Manfred Zapatka in deutscher Übersetzung nachsprechen lässt. Die Aufarbeitung der brutalen Mordtat im brandenburgischen Polzow, für die Regisseur Andres Veiel achtzehn Rollen auf eine Schauspielerin und einen Schauspieler verteilt. Oder Calle Overweg, in dessen „Das Problem ist meine Frau“ reale Therapiegespräche mit Männern, die ihre Frauen schlagen, mit Darstellern reinszeniert werden. „Performing Documentary“ präsentiert eine Schule der Vorsicht und der Skepsis. Was hier zu sehen ist, ist Welten entfernt von der Erklärungs- und Einfühlungswut, die heute in Fernsehdokumentationen diktatorisch regiert.

■ „Performing Documentary“: vom 2. bis zum 5. Juni im Arsenal Kino