Mitleid für ein zerzaustes Leben

FILM Edward Bergers „Jack“ ist ein Film, der genau weiß, welche Geschichte er erzählen will – und wie er sie erzählen will

„Jack“ ist vom gediegenen deutschen Mittelschichtsdrama weit entfernt

Im Wettbewerbsprogramm der diesjährigen Berlinale landete „Jack“ aus dem Nichts. Edward Berger, der Regisseur und Autor (gemeinsam mit Nele Mueller-Stöfen), hatte zuvor Werbung und Fernsehen gemacht und war allenfalls Zuschauern ein Begriff, die in den präziser inszenierten „Tatort“-Filmen auf die Credits achten. In der Hauptrolle ein Kind, und eine Besetzung, die keiner Prominenz bedarf, weil der Film genau weiß, welche Geschichte er erzählen will. Und vor allem: wie er sie erzählen will.

„Jack“ ist vom gediegenen Abendbrot, bei dem das deutsche Mittelschichtsdrama seine Probleme diskutiert, weit entfernt; die Brause kommt aus Plastikflaschen mit nichtssagendem Etikett. Die junge Mutter (Luise Heyer) kann sich zwischen ihren Wünschen (Ausgehen) und Pflichten (Erziehen, Ernähren) nicht recht entscheiden. Also kümmert sich der Ältere, Jack, um den Jüngeren, Manuel (Georg Arms). Ivo Pietzcker rennt als Kind mit traurigem Gesicht permanent durch diesen Film, die Haare sind immer angeschwitzt (Maskenbild: Milena Pfleiderer). Zuspätkommen, Flucht, Suche –„Jack“ kennt nur Tätigkeiten, denen das Maß fehlt, die Ordnung. Lauf, Junge, lauf.

Seinen dramatischen Knoten schürzt Bergers Film, als Jack ins Heim abgeschoben und am Beginn der ersten Sommerferien von der unzuverlässigen Mutter abermals enttäuscht wird. Nach einer Auseinandersetzung mit einem Schläger flieht Jack in die Stadt und Richtung Zuhause. Auf diesem Weg erschließt der Film ein inoffizielles, in Spätsommerfarben leuchtendes Berlin der Fluchttreppen und Lieferzufahrten (Kamera: Jens Harant). In seiner Dynamik und dem Blick auf eine trostlose Realität erinnert „Jack“ an die Filme von Jean-Pierre und Luc Dardenne, deren neuester, „Zwei Tage, eine Nacht“, Ende des Monats in die Kinos kommt. Bei genauerem Hinsehen unterscheidet sich Bergers Film allerdings in den Details: Wo die Dardennes ihre Protagonisten in die Ausweglosigkeit moderner Tragödien stürzen, sind die Handlungen bei „Jack“ nicht ganz so zwingend motiviert.

Weil der Film sich auf seinen bravourösen Hauptdarsteller konzentriert, bleibt etwa die Figur der Mutter unscharf. Deren Tun kann sich die Zuschauerin, allem Sozialrealismus zum Trotz, nur mit Hilfe von Ressentiments erklären, die „Jack“ durch seine uneingeschränkte Sympathie mit einem Kind bedient, das wie ein Erwachsener agiert. Bergers Film ist beachtlich und entschieden. Er hinterlässt einen Nachgeschmack aber auch deshalb, weil es dem bürgerlichen Publikum durch solche Parteinahme zu leicht gemacht wird, sich im Mitleid für zerzauste Leben zu gefallen. MATTHIAS DELL

■ „Jack“. Regie: Edward Berger. Mit Luise Heyer, Georg Arms, Ivo Pietzcker, D 2014, 102 Min.