Veuve Clicquot bis zur Ohnmacht

Basteln am Glamour-Faktor: Die Ausstellung „Hardcore Glamour“ im Kunstraum Kreuzberg sucht nach dem „spezifischen Berlin-Feeling“ in einer Gemengelage von Revoluzzer-Glam, Nachtleben, Hundehaltern und Trinkern

In den letzten Jahren drehte Berlin beim Basteln am eigenen Glamour-Faktor ja noch mal so richtig auf. Im „Goya“ verkalkulierte man sich grob mit der Selbstdarstellungsgeilheit betuchter Neubürger. Wie es Ulf Poschardt mit seinem Heft für die „neue Leistungselite“ über „Movers und Shakers“ ergehen wird, steht noch nicht ganz fest. Klar erfolgreich bisher: Das Konzept Berghain (Verschiebung des Biorhythmus, Bejahung eines relativ autodestruktiven Hedonismus) und das Konzept Berlin Biennale (stinkende Kunst in abgehalfterten Immobilien, hysterischer Andrang zur Eröffnung).

Es ist schon was dran am Gerede vom armen sexy Berlin, dessen Glam noch keine kapitale Kaviar-Leuchtkraft hat, dafür aber eben irgendwie „hardcore“ ist, roh und temporär, drüber und druff. Und da das alles noch so prekär ist, muss die Stadt andauernd sich selbst zum Thema machen. Da kommt eine Ausstellung unter dem Titel „Hardcore Glamour“ gerade recht. Die beiden Künstler Barbara Prokop und Niels Betori Diehl haben es sich im Kunstraum Kreuzberg zur Aufgabe gemacht, „dieses spezifische Berlin-Feeling“ zu erforschen und dabei zu fragen: „Welche Arbeiten entstehen auf der Grundlage dieses Feelings, was für eine Energie produziert Berlin?“ Zur Beantwortung stellen sie eine Menge eigener Arbeiten und die von zwölf anderen KünstlerInnen aus.

Betori Diehl kam vor einigen Jahren aus Italien nach Berlin, Prokop aus Kanada. Beide haben an der UdK studiert. Vielleicht ist ihr Blick der, der gerade den Diskurs über die Stadt bestimmt, getragen von der Begeisterung kreativ tätiger Ausländer, die rund um den Globus Berlin zur mythischen Projektionsfläche ihrer Sehnsüchte gemacht haben.

Ein groß aufgezogenes Foto zeigt einen Nackten, der den Kopf mit einem Pali-Tuch vermummt und den Schwanz appetitlich auf dem Oberschenkel abgelegt hat. Daneben bilden kleine Swarovski-Kristalle auf einem Spiegel die glitzernde Abschrift eines Altkreuzberger Häuserwandspruchs – „eigentum ist diebstahl, besetzt alle häuser“. Aus einer kleinen Holzinstallation am Boden nudeln die Scherben den Rauch-Haus-Song. Die etwas historisch anmutenden Anspielungen auf die Besetzer-Ära bekommen ihr Gegenüber in 104 Porträtfotos im Postkartenformat. Erst die Nachfrage enthüllt deren Geheimnis: Seit vier Jahren macht die Sekretärin der Kunstwerke in der Auguststraße von jedem dort arbeitenden Künstler und Kurator ein Foto. Die Bilder hat sie Barbara Prokop zur Verfügung gestellt, die damit ihren eigenen Zugang zur Berliner Kunstblase ausstellt.

Weiter hinten beobachten die Kameras von Rommelu Yu die Therapiesitzungen eines rechten Jugendlichen aus Lichtenberg, während daneben Pola Sieverding auf einer fotografischen Coolness-Ikone mit Ray-Ban-Sonnenbrille zwischen zwei Pitbulls posiert. Noch unbarmherziger spielt Barbara Prokop mit Sozialsymbolik, wenn sie vor ihrer Kamera einen sowieso schon betrunkenen Plastikbeutelmann eine Veuve-Clicquot-Flasche leer machen lässt. Nur im Gespräch erfährt man von ihr: 50 Euro hatte sie dem Mann auf der Straße dafür geboten, dass er vor der weißen Kunstraum-Wand den Schampus trank. Am Schluss lag er plötzlich ohnmächtig da; sie rief den Notarzt.

Noch obszöner ist da fast nur das Foto aus der Boulevardpostille, das Betori Diehl in Überlebensgröße in die Ecke gestellt hat: Ornella Mutis Tochter lehnt kokett auf dem Adlon-Balkon, vor dem Stelenfeld, mit Goldsandälchen, blondiertem Haar und Riesenausschnitt. Seelenruhig kommentiert die Bildunterschrift: „Im Hintergrund: das neue Holocaust-Mahnmal“.

Formuliert man es wohlwollend, liefert die Ausstellung einen Widerschein dessen, was Berlin als Mythos wohl ausmacht: Eine Gemengelage aus machoidem Revoluzzer-Glam, Nachtleben, krassen sozialen Missständen, Nazis gestern und heute, hyperaktiver Kunstszene – und einer gewissen Trashigkeit in der kulturellen Produktion. In dieses absichtsvoll reichlich unscharf belassene Konzept passen dann auch Arbeiten rein, die sich mit den Beckhams, 9/11 und Hackysack-Artisten beschäftigen. Denn auch Hardcore-Willkür hat ja, ganz der D.I.Y.-Logik verpflichtet, irgendwie mit Berlin zu tun.

KIRSTEN RIESSELMANN

Bis 10. 6., Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, täglich von 12 bis 19 Uhr