Stalin, Nixon und der Ohrensalat

Musikalisches Tafelkonfekt kann zu peinlichen diplomatischen Missklängen führen

Vor Schreck blieb Nixon ein fritiertes Schwalbennest im Hals stecken

Die musikalische Begleitung und Umrahmung eines festlichen Essens ist seit alters her ein Ritual zu Ehren hoher Gäste. Untermalte bei adeligen Gesellschaften meist zierliches Geklimper die höfische Tischkonversation, so diente in neuerer Zeit beim Treffen hoher Politiker vermehrt auch zeitgenössische Musik der Unterhaltung und Erbauung. Doch nicht nur an den festlichen Tafeln hochgestellter Persönlichkeiten, sondern auch an den Esstischen von Normalbürgern wird zu besonderen Anlässen eine Musikbegleitung geschätzt. Wer weiß schon, wie viele Ehen allein deshalb von Anfang an unter einem schlechten Stern stehen, weil der zur Hochzeit engagierte Alleinunterhalter nur die Lieblingslieder des Gatten spielt? Wer zählt die Trauerfeiern, die dank des schwungvollen Melodienreigens von Combos mit Namen wie „Der klingende Globus“ am Ende eher einer Diskohölle glichen?

Immer wieder aber kam es auf diplomatischem Parkett zu denkwürdigen Zwischenfällen, bei denen die Tischmusik den Verlauf des Essens erheblich beeinflusste und buchstäblich „die erste Geige“ spielte. Ein kleiner Streifzug durch die jüngere Geschichte mag dies verdeutlichen:

Als sich noch während des Zweiten Weltkriegs die Kriegsalliierten im Februar 1945 auf Einladung Stalins auf der Halbinsel Krim zur Konferenz von Jalta trafen, kam es, wie bei solchen Anlässen üblich, zu einem festlichen Abschlussbankett. Als Tafelmusik sollte Schostakowitschs Konzert für Orchester und Orgel in F-Dur zur Aufführung gelangen. Aus Angst vor Repressalien wagten die Musiker des allsowjetischen Armeesymphonieorchesters allerdings nicht, eine herkömmliche Orgel einzusetzen und gingen lieber auf „Nummer sicher“. So intonierten sie Schostakowitschs eindrucksvolle Komposition mit der damals sehr beliebten Stalinorgel. Ohrenbetäubender Lärm übertönte infolgedessen das Tischgespräch der Kriegsherren, die dem lieblichen Massandra-Wein dafür umso ungehemmter zusprachen. Kein Wunder, dass der trinkfeste Diktator Stalin anschließend leichtes Spiel hatte und den nervlich völlig zerrütteten Churchill und Roosevelt seine Vorstellungen zur Nachkriegsordnung Europas beinahe nach Belieben diktieren konnte.

Ein anderer peinlicher Zwischenfall auf höchster diplomatischer Ebene ereignete sich während des Besuchs von US-Präsident Richard Nixon in der Volksrepublik China im Jahre 1972. Nixon wurde dort auch von Mao Zedong empfangen und nach chinesischer Sitte mit einem 24-gängigen Festmenü geehrt. Zur Unterhaltung des Präsidenten ließ Mao die damals sehr populäre Pekingoper „Immortal Hero Yang Ken-Sze“ aufführen. Die ungewohnt schrillen Singstimmen vor allem der Sängerinnen zerrten deutlich an Nixons Nervenkostüm. Vielleicht auch deshalb blieb Nixon während einer besonders dramatischen Szene unglücklicherweise ein fritiertes Schwalbennest im Halse stecken, das auch durch wiederholtes Räuspern und heftiges Auf-den-Rücken-Klopfen nicht zu entfernen war. Doch alsbald zeigte sich auch die heilende Wirkung der Musik: Als nämlich in der Oper die Rotgardistin Ling Hiu mit voller Stimmkraft zu ihrer großen Arie ansetzte, wurde Nixon endlich von seinem Ungemach befreit. Leider zersprangen bei dieser Gelegenheit auch die meisten Weingläser und der chinesische Rotwein der Marke „Großer Sprung nach vorn“ ergoss sich blutrot über die blütenweißen Seidentischdecken.

Abschließend kann wohl festgestellt werden, dass dringender Handlungsbedarf besteht, die Frage der geeigneten Tischmusik im Lichte all dieser bedauerlichen Vorkommnisse künftig einer etwas sorgfältigeren Prüfung zu unterziehen. RÜDIGER KIND