Reif fürs Regieren

Karoline Linnert kennt sich mit der Schafhufkrankheit Moderhinke aus und hat als Oppositionsführerin in Bremen jahrelang die merkwürdigen Auswüchse des Scherf-Regimes bekämpft. Diesmal tritt die Grüne dafür an, das kleinste Bundesland künftig wieder mitzuregieren

Sie hat die örtlichen Grünen gegen die Schröder-Regierung auf einem Kurs gehalten, der nicht neoliberal genannt werden kann

AUS BREMEN BENNO SCHIRRMEISTER

Die Sache rollt. Sie lässt sich nicht mehr steuern, kaum noch beeinflussen. Und nur sehr annähernd berechnen. Klar, dass Karoline Linnert, dass alle im Grünen-Hauptquartier an der Weser nervös auf die Werte der Meinungsforscher schauen. Die sickern erst als Gerücht durch, „FDP drin, Linkspartei draußen“, das war was in der Stadt gemunkelt wurde, und die Grünen doch nur bei 14 Prozent. Linnert guckt entschuldigend: „Gefühlt waren das mehr“, sagt sie, 15 plus x hat sie als Wahlziel ausgegeben.

„Das wären etwa 20 Sitze Mehrheit“, schnarrt Matthias Güldner, Listenplatz zwei übern Flur, „das müsste genügen.“ Wenn die SPD nicht noch weiter unter die 40 Prozent absackt, wenn die CDU wirklich in der Twenty-something-Region dümpelt. Wenn Bremerhaven nicht völlig aus dem Ruder läuft. Und wenn die Grünen die 14 wirklich schaffen.

Die Umfragen-Diskussion, das ist das eine: Irgendwie bleiben die Zahlen den ganzen Tag präsent, im Kopf, lugen kurz im Gespräch wieder vor, werden dann vergessen, verdrängt. Ihr Wert ist zweifelhaft, das weiß Linnert, Diplom-Psychologin, sehr genau, und nicht erst seit 2002. Da hat ihr ein Meinungsbild einen Auftritt im Nachrichtenmagazin Der Spiegel verschafft: Die Grünen-Fraktion hatte das Institut Emnid beauftragt zu erforschen, wie die rot-schwarze Koalition denn so ankommt. Und der Zufallsgenerator hatte ausgerechnet den SPD-Parteisprecher und den damaligen CDU-Fraktionschef aus dem Telefonbuch gefischt. Der das, versteht sich, publik machte. „Linnert nimmt den kleinen Betriebsunfall heiter“, hieß es dazu im Spiegel, und der Beitrag schließt mit dem denkwürdigen Zitat: „Zufälle gibt’s, würde meine Mutter sagen.“

Eine Anekdote halt, unbedeutend, im Prinzip. Nur dass es die erste Erwähnung Linnerts im Spiegel seit zehn Jahren war, gibt der Geschichte eine Bedeutung. Die lautet: Bundespolitisch hat die Spitzenkandidatin nie eine Rolle gespielt. Spielen wollen, sagt sie, und das darf man ihr glauben. „Immer weg sein“, sagt sie, das wäre nix gewesen, und, leicht empört: „Mensch, ich hab’ doch Familie, zwei Kinder, ich bin verheiratet.“

Gleißendes Sonnenlicht, gähnende Leere: Linnert versucht, Flugblätter unters Volk zu bringen. Das ist aber nicht da. Linnert bleibt cool. „Ich bin nicht so abgehoben, dass ich denke, ich muss nur irgendwo aufkreuzen und schon strömen die Massen.“ Da gibt es auch keinen Grund für: Die von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen ermittelten Bekanntheitswerte sind miserabel. 58 Prozent konnten mit dem Namen der langjährigen Oppositionsführerin gar nichts anfangen, eine Verbesserung um sieben Prozent in vier Jahren harter und, das räumt jeder ein, guter Arbeit. Ein anderes Ergebnis: Trotzdem ist Linnert beliebter als der ungleich bekanntere Spitzenmann der CDU, Innensenator Thomas Röwekamp. Daraus folgt, erste Ableitung: Fast jeder, der Linnert kennt, wählt sie auch. Und die zweite: Wie kann sie bekannter werden? Durchs Mitregieren?

Zahlenspiele. Linnert lässt sich nicht verrückt machen, später wird ihr Stargast Daniel Cohn-Bendit verbal auf die Schulter klopfen: „Und wenn das nicht 15 Prozent werden, sondern 14, ist das auch kein Drama“, was natürlich Druck wegnehmen soll. Und das tut gut. Aber furchtbar angespannt wirkt sie nicht: Vielleicht ist das gesunder Fatalismus, weil es jetzt, wo die Sache rollt, wo das Intervall zum Stichtag 13. Mai schon herunterzuzählen ist – 72 Stunden sind 4.320 Minuten oder 259.000 Sekunden –, kaum noch Möglichkeiten der Einflussnahme gibt. Vielleicht ist das auch echte innere Ruhe, die Fähigkeit sich zurückzuziehen, in die Familie, in die Gartenarbeit zu fliehen. „Früher“, sagt Linnert, „als Jugendliche, da habe ich Gartenarbeit gehasst.“

Vater Linnert war nämlich aufs Land gezogen, in einen Kotten. „Er wollte unbedingt Schafe“, sagt Linnert, „und die Bauern dort, die hatten natürlich vor allem Kühe und dachten, was will der bescheuerte Linnert mit Schafen.“ Jedenfalls, dann haben sie ihm Tiere mit Moderhinke angedreht. Eine fiese Infektion. Der, na sagen wir: Fußnagel löst sich von der Klaue, dabei entsteht, logisch, ein Spalt, und der eitert wie wild. „Wir mussten denen immer die Nägel schneiden“, sagt Linnert, verzieht das Gesicht. „Puh, das stank!“ Sie lacht, und dann seien die Klauen in Chemikalien behandelt worden, eine stark färbende Lösung, „Ich hatte als Kind immer lila Finger.“

Gymnasium, Abi in Bielefeld, Studium ebendort und an der Ossietzky-Uni in Oldenburg, seit 1988 in Bremen. Als Gesundheitsreferentin hat sie damals angefangen, in der Grünen-Fraktion. Dass die Frau wichtig werden würde, konnte man im Spätherbst 1991 bemerken: Da war sie erstmals Abgeordnete. Und Linnert bewarb sich um einen der drei Posten als Fraktionssprecherin. Gegenkandidatin: Marieluise Beck. Bundestagserfahren. Alteingesessen. Superprominent. Gewählt wurde Linnert, die ursprüngliche Gegnerin der Ampelkoalition, die gerade Becks Lebensgefährten Ralf Fücks zum Senator bestimmt hatte.

Der Wahlkampftag ist vollgepackt. Früh um neun Uhr: Diskussion mit SchülerInnen. Dann: Marktplatz im Stadtteil Oslebshausen. Weiter zum Richtfest eines Ärztehauses der Diakonie. Eine Rede schreiben, nachmittags auf die Bühne vorm Theater, ein Zwischenstopp zu Hause. Zehnminutenschlaf. Und dann leicht verspätet auf einer Podiumsdiskussion eintrudeln. Franz Alt. Klimakatastrophe. Auf Einladung vom BUND. Ein Heimspiel für Linnert, weil sie als einzige der politischen Talkgäste entschieden gegen die Pläne für ein Kohlekraftwerk auftritt, aber so richtig euphorisieren lässt sie sich vom aufbrandenden Applaus auch nicht.

„Wenn ich das am Anfang gewusst hätte“, sagt Linnert: „Mein Gesicht als Plakat in der ganzen Stadt – dann hätte ich was anderes gemacht.“ Jetzt aber hat sie sich zu weit vorgetraut. Die Sache läuft, schon lange. Seit fünf Jahren ist Linnert Fraktionsvorsitzende. Sie hat, Sozialpolitikerin, gegen die Schröder-Regierung in Berlin, die örtlichen Grünen auf einem Kurs gehalten, der nicht neoliberal genannt werden kann. Der Grundfehler der Linken, „ausnahmslos“, sagt sie, das sei gewesen, die soziale Frage „ausschließlich monetär“ anzugehen: Das habe „uns die ganze Hartz IV-Scheiße“ doch erst eingebrockt. Sagt sie. Zugleich, und vor allem als Finanzpolitikerin, hat Linnert die merkwürdigen Auswüchse des Scherf-Regimes bekämpft. Hat Akteneinsicht erstritten, Luftbuchungen aufgedeckt, die Zahlenspielereien der Regierung, und hat nicht gezögert, sich an echten Skandalen die Finger schmutzig zu machen. Zum Beispiel, dass 2003 die Staatskanzlei des überschuldeten Landes 20 Millionen Euro am Haushalt vorbeigeschmuggelt und im Wesentlichen einer privaten Uni zugeschustert hat: Sie hat’s bemerkt. Oder, dass 2006 der Geschäftsführer einer kommunalen Klinik die Stadt um mehrstellige Millionenbeträge prellte – Linnert hat’s entdeckt.

Das Ansehen, das sie im politischen Teil des Landes mit ihrer Arbeit erworben hat, ist hoch. Man merkt das, wenn man die Beschimpfungsrituale in der Bürgerschaft analysiert. Die durchaus scharfzüngige Linnert teilt gerne aus. Klar wird sie auch attackiert: Der Vize der Unionsfraktion zum Beispiel. Der hat sie kürzlich „oppositionsmüde“ genannt. Das wird sie verschmerzen können. Denn ins Positive gewendet heißt das nichts anderes als: Reif fürs Regieren.