ALLE WOLLEN MEHR GELD FÜR STRASSEN UND BRÜCKEN. DAMIT DER VERKEHR NOCH SCHLIMMER WIRD?
: Wenn Geisterfahrer Phantomdebatten führen

VON BERNHARD PÖTTER

Ab Kilometer 33 schaue ich nur noch auf den Boden fünf Meter vor meinen Füßen. Ich will keine lustigen Pappschilder der Zuschauer am Rand mehr sehen, auf denen „Quäl dich, du Sau!“ oder „Ab morgen wieder: Bier, Chips und Sex!“ steht, sondern mich auf die letzten harten Kilometer beim Berlin-Marathon konzentrieren.

Der Blick auf die Straße ist wichtig: Vor mir taumeln die Läufer oder bleiben abrupt stehen. Und ich muss gucken, wo ich hintrete: Die Straßen zwischen Ku’damm und Potsdamer Platz sehen aus wie eine bulgarische Buckelpiste: riesige Risse, notdürftig geflickte Schlaglöcher, knöcheltiefe Spurrillen. Mir dämmert, warum die Leute immer mehr Jeeps und Straßenpanzer fahren.

Die Infrastruktur in Deutschland ist ähnlich marode wie das Waffenarsenal der Bundeswehr. Brücken bröckeln, Bahnhöfe nässen ein, Straßen quellen auf und vor Verkehr über, Schleuserbanden regeln den Verkehr auf unseren Kanälen. 20 Prozent der Autobahnen und 40 Prozent der Bundesstraßen sind offiziell in einem kritischen Zustand. Jede zweite Autobahnbrücke ist marode. Jährlich müssten wir, sagen Experten, rund 4,55 Milliarden Euro mehr in Bahn, Schiene und das Drumherum investieren, um sie am Laufen zu halten. Tun wir aber nicht.

Dabei rast die ganze Debatte um die marode Infrastruktur mit Vollgas in die Sackgasse. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) will mit seiner Pkw-Maut von den Ausländern vielleicht mal 600 Millionen Euro kassieren. Wenn ihm nicht die EU einen Strich durch die Rechnung macht, was natürlich die bayerischen Vorurteile gegen Brüssel vollauf bestätigen würde. An solchen bizarren Debatten nehmen wir alle gern teil. Aber was wir dem Wahnsinn rund um die Straße alles opfern, darüber redet niemand.

Dabei ist es ganz einfach: Wer überall Straßen hinbaut, damit die freien Bürger ihre Freiheit so richtig genießen können, darf sich nicht wundern, wenn diese Straßen be- und abgenutzt werden. Da kommt mit 13.000 Kilometer Autobahnen, 40.000 Kilometer Bundesstraßen, 600.000 Kilometer anderen Straßen und mit 35.000 Kilometer Schienen in Deutschland ganz schön was zusammen. Jede neue Umgehungsstraße, jede dritte Spur auf der Autobahn trägt zu einem der größten deutschen Ökoprobleme bei: dem „Flächenfraß“, dem täglich (!) 160 Fußballfelder zum Opfer fallen. Von den Toten und Verletzten unserer automobilen Gesellschaft hier ausnahmsweise mal ganz zu schweigen.

Vor allem fehlt überhaupt eine Idee, wie Deutschland als Exportnation und Transitland mitten in Europa mit seiner Mobilität weitermachen will. Immer wieder Straßen säen und Verkehr ernten? Sich über die Konjunktur in der Bauwirtschaft freuen? Privaten Kapitalisten lustig Geld hinterherwerfen für Straßen, die der Staat billiger baut? Der Verkehr mit Bus, Eisenbahn und eigenem Auto verharrt auf hohem Niveau, der Flug- und der Lastwagenverkehr steigen. Über ein Gesamtkonzept für ein – nur Wahnsinnige gebrauchen wohl noch dieses Wort – nachhaltiges Verkehrssystem wird nicht mal geredet. Wir haben ja unsere Maut-Debatte. Gegen das Gewurschtel auf Straße, Schiene und Kanal ist die Planung der Energiewende ein Musterbeispiel für effizientes staatliches Handeln.

Das bringt alles nichts? Oh doch: Man kann nicht oft genug sagen, wie dringlich eine Vision für den Verkehr von morgen ist. Und das wirkt auch schon heute: Die Gedanken daran lenken mich auf den letzten neun Kilometer von meinem pochenden Knie ab. Im Ziel des Marathons wird mir schmerzhaft klar: Laufen ist auch keine Lösung.