Die Angst der Herrschenden

Ein paar tausend Demonstranten versetzen den Kreml in Alarmbereitschaft. Pluralismus ist nicht vorgesehen

VON KLAUS-HELGE DONATH

Seit Wladimir Putin im Frühjahr 2000 in den Kreml einzog, hat sich die in den 90er-Jahren noch schillernde russische Politlandschaft in gähnendes Ödland verwandelt. Wenn immer sich Selbständigkeit regt, sind auch die Holzfäller des Kreml nicht mehr weit. Russlands Demokratie schmückt sich seit kurzem mit dem Beiwort „souverän“. Damit grenzt sich der selbstbewusst gewordene Kreml endgültig gegenüber universalistischen Werten und Forderungen aus dem Westen ab. Pluralismus und Demokratie von unten sind im Konzept der Souveränität nicht vorgesehen. Moskaus Polittechnologen basteln unterdessen in Anlehnung an die Gepflogenheiten sowjetischer Sozialingenieure an dem Aufbau eines Zweiparteiensystems. Nur will dies nicht so recht gelingen. Denn selbst die Bürokraten, die das System mit Leben füllen sollen, wollen nicht von vornherein den Part eines Gewinners oder Verlierers übernehmen.

Trotz der überwältigenden Zustimmung von mehr als 70 Prozent, die Präsident Wladimir Putin auch nach sieben Jahren noch genießt, ist das politische Establishment verunsichert. Einige tausend Demonstranten in Sankt Petersburg reichten aus, um die Staatsmacht in Alarmbereitschaft zu versetzen. Sondereinheiten der Polizei aus dem gesamten Nordwesten Russlands wurden in der nördlichen Metropole zusammengezogen. Die Verunsicherung geht so weit, dass die politische Führung in Sankt Petersburg bei den Kommunalwahlen nächsten Sonntag sogar die liberale Partei Jabloko an der Teilnahme hinderte. Ein kleiner Erfolg, ein paar Sitze im Stadtparlament, hätte das antidemokratische Image Russlands sogar ein wenig aufpolieren können. Und einige Anhänger Jablokos wären dem „Marsch der Andersdenkenden“ mit Sicherheit auch ferngeblieben. Doch die Angst der Herrschenden sitzt tiefer.

Die Veranstalter der Demonstration, die Dachorganisation das „Andere Russland“, stellen für die Politstrategen des Kremls ein rotes Tuch dar. Obwohl die breite Bevölkerung ihnen gegenüber keine besonderen Sympathien hegt und die Politaktivisten kaum auf Rückhalt setzen können. Die Frontfiguren der russischen Opposition spielten bis auf den von Putin geschassten Ministerpräsidenten Michail Kasjanow immer die Rolle von politischen Außenseitern. Kasjanow mag Vorbote eines Stimmungswandels sein. Die Kräfte, die er bislang hinter sich sammelt, sind jedoch minimal. Dem früheren Regierungschef haftet überdies die Aura eines Krisengewinnlers an, der sich in den 90er-Jahren am Ausverkauf des Staatseigentums gütlich tat. Noch verkörpert er keine Alternative zu den Machthabern, er verleiht dem „Anderen Russland“ jedoch ein passables Äußeres. Kasjanow ist kein Bürgerschreck wie der Vorsitzende der nationalbolschewistischen Partei (NBP) Eduard Limonow. Der Untergrundliterat verfügt nach eigenen Aussagen über ein Netzwerk von zehntausend meist jugendlichen Aktivisten, verstreut über ganz Russland. Die Mitstreiter der NBP rekrutieren sich zumeist aus gut ausgebildeten Jugendlichen. Zahlreiche Aktivisten der so genannten „Limonowzy“ sitzen wegen Ordnungsverstößen im Gefängnis. Die Justiz kennt ihnen gegenüber kein Pardon. Auch Kultfigur Limonow saß gelegentlich ein. Die Limonowzy verstehen sich als eine intellektuelle Avantgarde, sie sind aber keine Befürworter einer Demokratie nach westlichem Vorbild. Ihre Ideologie ist ein eklektisches Amalgam aus Antiimperialismus, russischem Sonderweg und vormoderner Ständegesellschaft. Ähnliches Gedankengut beherrscht auch die Mitstreiter der anarchistischen „Roten Jugend“, die in Petersburg mit demonstrierte.

Westlichen Vorstellungen demokratischer Opposition kommt das Bündnis des Schachweltmeisters Garri Kasparow, die „Vereinigte Bürgerfront“, am nächsten. Auch dieser Zusammenschluss ist nur ein lockeres Zweckbündnis, dem vornehmlich junge Leute angehören. Viele von ihnen sind Mitglieder von Jugendorganisationen ehemaliger ins politische Abseits geratener demokratischer Parteien. Wie die Limonowzy können sie auf einen hohen Bildungshintergrund verweisen. Noch ist mit der russischen Opposition indes weder Staat noch Revolution zu machen.