HAUPTSTADT DER DEMONSTRATIONEN: BERLIN IST REICH AN HISTORISCHEN AUGENBLICKEN
: Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein

ANDERES TEMPERAMENT

VON DORIS AKRAP

Es ist ein hübsch warmer Sommerspätabend in Kreuzberg. Durch meine Fenster dringt das Gezwitscher einiger verwirrter Tagvögel, das sich mit der alkoholgetränkten Musik meines schwerhörigen Nachbarn vermischt. Plötzlich wird die laue Abendruhe im Kiez von wummernden Geräuschen durchbrochen und blaue Lichter funkeln. Lauter werdende menschliche Stimmen kommen immer näher. Ich kann es nicht glauben, seit Jahren wohne ich hier und seit Jahren warte ich darauf, dass endlich eine der Demonstrationen, die durchschnittlich siebenmal am Tag in Berlin stattfinden, auch mal durch meine Straße zieht. Und da ist sie.

Ich bin so überwältigt von dieser kleinen Demo, dass ich mit meinem Mobiltelefon vollkommen sinnlose Fotos mache, auf denen man nichts erkennen kann. Aber diesen historischen Moment will ich festhalten. Erst als die kleine Gruppe nur noch am Horizont zu sehen ist und das blaue Funkeln der Polizeiautos nicht mehr, frage ich mich, wogegen oder wofür diese Leute eigentlich durch meine Straße gelaufen sind.

Am nächsten Tag lese ich, dass ein paar Ecken weiter ein Haus besetzt und gleich wieder geräumt wurde. Zufällig erfahre ich an diesem Tag auch von einer geplanten Demo vor der ägyptischen Botschaft. Ich beschließe, dort hinzugehen, vielleicht auch ein bisschen, um diesen Fensterplatz, den ich nicht verlassen hatte, wieder gutzumachen.

Die Demonstration fordert die Freilassung von Maikel Nabil Sanad, dem ersten und einzigen Kriegsdienstverweigerer Ägyptens. Er wurde wegen seiner Kritik an der Militärführung von den derzeit regierenden Militärs zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Die ägyptische Botschaft in der Stauffenbergstraße ist wahrhaft ein Monument der Grausamkeit, der ästhetischen: ein quadratischer, von riesigen Ornamenten durchsetzter graulila Marmorklotz. Grund genug, diesen Ort schnell wieder zu verlassen. Die Gruppe, die mit Transparenten, Schildern, Trillerpfeifen, Tröten und Megafon ausgestattet ist, ist leider so klein, dass die Botschaftsangehörigen wohl kaum von ihr Kenntnis nehmen. Hätte das Botschaftsgebäude Fenster, hätten sie vielleicht sogar mal lächelnd rausgeschaut.

Irgendwie ist das Ganze ein bisschen traurig, denn unter der Handvoll Leute sind mindestens fünf unterschiedliche Politfraktionen. Der eine hält einen Stapel der Zeitung Spartakist in der Hand. An wen er die eigentlich verteilen will, ist unklar, aber sowieso habe ich den Verdacht, dass diese Zeitung mehr als Erkennungsmerkmal denn als intellektuelles Verständigungsorgan dient. Die anderen Teilnehmer halten eine Israelfahne hoch, weil der Militärdienstverweigerer Sanad in Ägypten auch versucht, Antisemitismus zu thematisieren und das Verhältnis zu Israel zu normalisieren.

Nach kurzer Zeit und einigen kleineren Diskussionen über die Weltlage ist die Handvoll Leute dann auch durch. Exminister Hans-Jochen Vogel läuft noch auf der anderen Straßenseite vorbei und wirft einen kurzen Blick auf die kleine Schildergruppe. Es ist schon ein bisschen seltsam, in der Stauffenbergstraße zu stehen, ein paar Meter vom Bendlerblock entfernt, und für die Freilassung eines ägyptischen antimilitaristischen Aktivisten zu demonstrieren, und keiner kommt. Die deutsche antimilitaristische Szene, die in dieser Gegend jahrelang gegen das öffentliche Gelöbnis der Bundeswehrrekruten demonstriert hat, ist weit und breit nicht zu sehen.

Am gleichen Tag erfuhr ich noch, dass das Art Forum abgesagt wurde. Von einer Demo dagegen habe ich nichts erfahren. Zu der Demo der Vereinigung deutscher Landesschafzuchtverbände am Brandenburger Tor bin ich dann aber nicht mehr gegangen.