Die Moral der zweitbesten Wahl

FAULE KOMPROMISSE Der israelische Philosoph Avishai Margalit, diesjähriger Leopold-Lucas-Preisträger, denkt über die moralische Bedeutung von Kompromissen nach

VON TIM CASPAR BOEHME

Avishai Margalit war schon früh Pazifist. Der israelische Philosoph, der seinen Wehrdienst in der Nahal-Fallschirmjägereinheit unter Ariel Scharon leistete und 1967 an der Eroberung Jerusalems im Sechstagekrieg beteiligt war, gründete nach der Erfahrung des Yom-Kippur-Kriegs 1973 die pazifistische Partei Moked.

Als er einer Delegation amerikanischer Intellektueller, die 1973 kurz nach dem Krieg nach Israel gekommen waren, die Ziele seiner Partei erläuterte, traten zwei der Besucher an ihn heran: der Literaturwissenschaftler Irving Howe und der Philosoph Michael Walzer. Beide fürchteten, dass Moked mit ihrem Programm – dem Eintreten für eine Zweistaatenlösung etwa – keine Chance haben würde, und empfahlen Margalit stattdessen, sich der Arbeitspartei anzuschließen und diese zu verändern. Howe insbesondere warnte ihn dringend davor, mit seiner Nischenpartei zum Sektierer zu werden.

Margalit, der später Mitglied der Bewegung Shalom Achshaw (Peace Now) wurde und heute in Princeton lehrt, erzählt diese Begegnung in seinem Buch „Über Kompromisse und faule Kompromisse“, weil Sektierer seiner Erfahrung nach in der Politik das Gegenteil des Geists des Kompromisses darstellen. Die Bereitschaft, von seinen Idealen im Sinne einer gemeinsamen (friedlichen) Lösung abzurücken, ist für ihn aber nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der individuellen Ebene entscheidend. Menschen sollten in seinen Augen nach ihren Kompromissen, nicht nach ihren Idealen moralisch beurteilt werden.

In der Philosophie spielen Kompromisse bisher keine Rolle, da diese sich stärker an „idealen Theorien“ orientiert – in der Ethik ist die Wirkungsgeschichte von Immanuel Kants kategorischem Imperativ eines unbedingten Sollens bis heute prägend. Kompromisse stellen den begrifflich-gedanklich weniger attraktiven politischen Alltag dar, dem Margalit aber genau deshalb seine Aufmerksamkeit widmet. Er sieht Kompromisse in einem Spannungsverhältnis zwischen Frieden und Gerechtigkeit, wobei ihn hauptsächlich die moralische Stellung von Kompromissen interessiert, die zwischen politischen Parteien um des Friedens willen auf Kosten der Gerechtigkeit geschlossen werden. Wann, so seine Frage, kann ein Kompromiss beanspruchen, einen „gerechten Frieden“ zu erzielen, und wann muss man hingegen von einem „faulen Kompromiss“ sprechen?

Pakt mit dem Bösen

Ein fauler Kompromiss ist eine „Übereinkunft, die eine unmenschliche, durchgängig auf systematischer Grausamkeit und Erniedrigung basierende politische Ordnung etabliert oder stützt“. Als solcher ist er „kategorisch inakzeptabel“, weil Grausamkeit und Erniedrigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Gedanken des „gemeinsamen Menschseins“ untergraben – und damit das Fundament der Moral insgesamt. Margalit beschäftigt dabei weniger die aktive Seite dieser Unrechtsordnungen als die passive Beihilfe zu Verbrechen, die durch Kompromisse entsteht. Diese sollte bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit nie zulässig sein.

Das Münchner Abkommen von 1938, mit dem das damals zur Tschechoslowakei gehörige Sudetenland wieder Deutschland angeschlossen wurde, ist für ihn der paradigmatische Fall eines faulen Kompromisses, wurde dieser doch mit der Person Hitler abgeschlossen, was einem „Pakt mit dem radikal Bösen“ gleichkommt. Als Kompromiss war das Münchner Abkommen daher nicht zu rechtfertigen

Margalits Gegenbeispiel für einen strittigen, aber gerechtfertigten Kompromiss sind die Beschlüsse der Jalta-Konferenz. Die kontroverse Frage, ob es legitim war, Stalin in die Verhandlungen mit einzubeziehen, um eine strategische Allianz gegen Hitler zu bilden, wird von Margalit bejaht. Selbst wenn Stalin während seiner Diktatur mehr Menschen ermordet haben sollte als Hitler, sei die Qualität der Bedrohung durch Hitler eine andere gewesen. Stalin war zwar böse, Hitler aber wollte mit seinem Rassismus den Sinn für ein gemeinsames Menschsein vernichten, habe mithin einen Angriff auf die Moral selbst verübt und sei daher „radikal böse“ gewesen.

Die historischen Bewertungen, zu denen Margalit in seinen Beispielen kommt, sind mitunter die weniger überraschenden Passagen seines Buchs. Spannend wird es vor allem dann, wenn er Faktoren für einen Mangel an Kompromissbereitschaft auf den Begriff zu bringen versucht. So unterscheidet er ein „ökonomisches“ Politikverständnis, dem alles verhandel- und tauschbar ist, von einem „religiösem“ Politikverständnis, in dem die Idee des Heiligen im Zentrum steht, das um keinen Preis verhandelbar und erst recht nicht kompromissfähig ist. Auch Sektierertum gehört zu einer solchen Auffassung von Politik, zu der er nicht nur seine ehemalige Partei Moked rechnet: Im israelisch-palästinensischen Konflikt sind die sektiererischen Tendenzen so stark, dass Margalit einen Kompromiss in weiter Ferne sieht. Doch so sehr er die Bedeutung der „zweitbesten Wahl“ für Ethik und Politik beschwört, im Zweifel wird auch der Kompromiss zum philosophischen Ideal, das als Lösung erstrebenswert, aber schwer zu verwirklichen ist.

Avishai Margalit: „Über Kompromisse und faule Kompromisse“. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Suhrkamp, Berlin 2011, 252 Seiten, 22,90 Euro