Selbsterfahrung mit der Bibel

BIBELARBEIT Angelehnt an eine jüdische Tradition, hat sich der Bibliolog auf dem Kirchentag als feste Einrichtung etabliert. Dabei beantworten die Gläubigen Fragen, die die Bibel offenlässt

VON ULRIKE HERRMANN

Für die Mehrheit ist es das erste Mal. Sie haben noch nie einen Bibliolog erlebt, sondern nun davon gehört. Deswegen sitzen sie jetzt auf einem der 50 Papphocker und warten auf die Anweisungen. Gekommen sind Menschen in jedem Alter, allerdings überwiegen die Frauen.

Der Anfang ist noch vertraut. Wie bei jeder Bibelarbeit wird die Tageslosung des Kirchentages vorgelesen. Diesmal sind es die Seligsprechungen, die sich am Anfang des Matthäusevangeliums finden. Dazu gehört auch Jesu Verkündigung, dass „selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“. Doch statt einer gewöhnlichen Bibelinterpretation folgt nun ein gemeinsames Rollenspiel. Bei einem Bibliolog sollen sich die Gläubigen in die biblischen Gestalten hineinversetzen.

Diesmal soll sich die Gruppe also vorstellen, das Leid hätte eine körperliche Gestalt, die sich tatsächlich schleppen ließe. „Wie trägst du dein Leid?“, fragt der Hamburger Pastor Frank Muchlinsky, der diesen Bibliolog durchführt.

„Gebeugt.“ – „Wie einen Rucksack, der ins Kreuz drückt.“ – „Möglichst nicht allein.“ – „Mein Leid geht neben mir her, es ist immer da.“ – „Mein Leid ist wie mein Monatseinkauf. In vielen kleinen Tüten. Ich habe gar nicht genug Hände, um es zu tragen.“ Niemand ist gezwungen, sich zu äußern, aber fast alle beteiligen sich. Aus einer Gruppe von 50 Kirchentagsbesuchern wird eine Gruppe von 50 Leidenden.

Der Bibliolog ist noch neu in Deutschland und wird hier erst seit 1999 praktiziert. Erfunden wurde er von dem jüdischen Nordamerikaner Peter Pitzele, der damit die jüdische Tradition des Midrasch fortführt. Da die Buchstaben der Tora heilig sind, entwickelten die Rabbiner schon früh eine Methode, Fragen zu stellen, die das Alte Testament nicht explizit beantwortet.

Inzwischen hat sich der Bibliolog, gemeinsam mit dem Bibliodrama, zu einer eigenen Sektion auf dem Kirchentag entwickelt.

Insgesamt 32 Veranstaltungen führt das Programm auf. Fast alle stellen die Selbsterkenntnis ins Zentrum und tragen Titel wie „Lebensnah, zärtlich, zugewandt!“ oder „Ein Mann tut, was ein Mann tun muss“.

Zum Bibliolog gehört häufig der Rollenwechsel. Wer eben noch sein Leid getragen hat, soll nun der Tröster sein. „Wie tröstest du?“, will Muchlinsky also wissen.

„Ich bin da und höre zu.“ – „Ich berühre und lasse mich berühren.“ – „Ich bemühe mich, keinen einzigen Ratschlag zu geben.“

Und noch einmal wird die Rolle gewechselt. Jetzt sollen sich alle wieder in Leidtragende versetzen und sich vorstellen, wie sie die vorgeschlagenen Tröstungen empfinden. „Es gibt keinen Trost“, sagt eine Frau bitter. „Niemand kann mir mein Leid wegnehmen.“ – „Ich leide vielleicht sinnlos“, antwortet ein Mann. „Aber nicht trostlos. Sonst wäre es ja trostlos.“

Am Ende steht keine Synthese. Anders als bei einer Predigt liefert ein Bibliolog keine Deutung, sondern eine Vielfalt der Assoziationen. Jeder ist sein eigener Pastor.