Erfolgreich gescheitert

Eigentlich kann sich Blairs politische Bilanz durchaus sehen lassen – aber auf lange Sicht bescherte ihm sein Politmarketing eine schlechte Presse

VON ROBERT MISIK

Man kennt diesen Ort aus dem Fernsehen. Dort ist er so häufig zu sehen wie der Rosengarten des Weißen Hauses oder die Empore des Élysée-Palasts. Ein kleines Haus mit einer kleinen Tür, in der Mitte ein schwerer Metallknauf, mit dem man klopfen kann. Downing Street 10, der Amtssitz des britischen Premierministers. Seit ziemlich exakt zehn Jahren, seit 2. Mai 1997, residiert hier Tony Charles Lynton Blair. Heute soll er seinen Abgang als Labour-Vorsitzender verkünden – und einen Termin für seinen Rücktritt als Regierungschef nennen. Der Rest ist geordnete Übergabe.

Als Blair, damals 44 Jahre alt, ins Regierungsamt einzog, war er ein Hoffnungsträger. So etwas wie der Kennedy der Neunzigerjahre: smart, energiegeladen. Einer, der etwas wollte. Der versprach, die Welt ein Stück besser zu machen. Und dem man das irgendwie auch abnahm. Zehn Jahre später hat Blair beinahe alle Hoffnungen enttäuscht. Gewiss, fast jedes Politikerleben ist, vom Ende her betrachtet, auch ein Scheitern. Aber wer mehr verspricht, scheitert auch grandioser. Einfach weil die Fallhöhe größer ist.

Downing Street 10, Mai 1998. Es ist ein strahlender Frühjahrstag, als ich zum Interviewtermin mit dem Premier bestellt bin. Der hatte eben sein erstes Jahr hinter sich gebracht. „Blairs Year“, wie es das US-Magazin Newsweek nannte. Wir sitzen im sonnendurchfluteten Cabinet Room, wo sonst die Regierung tagt. Blair war der Prototyp eines modernen Sozialdemokraten. Deutschlands Kraftmensch Gerhard Schröder, Wiens trauriger Viktor Klima – alle wollten sein wir der Brite. Und der wollte mehr sein als bloß Premier der Briten. Er wollte die Sozialdemokraten mit Markt, Liberalismus und Globalisierung aussöhnen. Mit seinem „Lächeln aus rostfreiem Stahl“ (so der US-Autor Joe Klein) und seiner bubenhaften Art verkörperte er Optimismus. Mit viel Verve trommelte er für einen „dritten Weg“ zwischen sozialdemokratischer Staatsfixiertheit und neoliberalem Marktfundamentalismus. Gewerkschaftern und altgedienten Labour-Funktionären rief er zu: „Modernize or die“ – modernisiert euch oder sterbt.

„Gibt es wirklich ein Blair-Modell für die Sozialdemokratie? Und wie fühlt man sich als Ikone?“, fragte ich ihn. Blair lachte. „Es wird schon noch weniger Erfreuliches auf mich zukommen. Wer hoch fliegt, stürzt tief“, um dann gleich wieder ernst zu werden, auf seine fast biedere, predigerhafte Weise. Angesichts des massiven Wandels der Welt gebe es „nur drei mögliche Positionen. Die erste, die viele der alten Linken vertreten haben, ist: Bekämpft den Wandel! Die Haltung der Konservativen ist: Der Wandel passiert, was immer man tut. Unser ‚dritter Weg‘ ist, dass man die Menschen auf den Wandel vorbereiten muss, etwa indem man in Ausbildung und Infrastruktur investiert.“

Blair hatte Charisma, aber er war auch überzeugend, weil er eine Idee hatte. Wenn sich die Welt ändert, ist es doch einfach unvernünftig, alten Gewissheiten nachzutrauern. Dass er seine Partei in die Mitte rückte, war die Basis seines Erfolgs. Weil er instinktiv wusste, dass die Kehrseite der Modernisierung die Substanzlosigkeit sein würde, wollte er sein Mittelwegprojekt mit einer Art Theorie, einem Weltbild aufpeppen.

Tony Blairs tiefer Fall begann später. 2003 führte er Großbritannien an der Seite der George W. Bush in den Irakkrieg – mit Medienmanipulationen und lautem Getrommele über die irakischen „Massenvernichtungswaffen“, die dann niemals gefunden wurden. Seither hielt die Mehrheit der Briten ihren Premier für einen „Lügner“. Davon konnte sich Blair nie wieder erholen. 2005 wurde Labour trotz, nicht wegen des Spitzenkandidaten wiedergewählt. Dass dieser seine Karriere mit einer falschen Entscheidung ruinierte, halten manche für „die Tragödie des Tony Blair“, wie es das US-Magazin The Atlantic formulierte.

Der Strahlemann, der sich mit einem Fehler alles kaputt machte – diese Deutung wäre freilich etwas zu holzschnittartig. Das Paradoxe an Blair ist, dass er schon auf dem Höhepunkt seiner Erfolge stets an der Grenze zum Scheitern stand. Seine Stärken waren immer auch gleichzeitig seine Schwächen. Als Schüler war Blair ein begnadeter Schauspieler. Später machte er eine Karriere als Anwalt. Beides prägte den Politiker Blair. Er setzte seine Argumente punktgenau wie ein guter Advokat. Und er wusste das Publikum auf seine Seite zu ziehen wie ein guter Mime. Deshalb galt er vielen bald als Blender, als eine Art politischer Filou.

Aber Blair war auch ein Mann der Widersprüche. Für seine Gegner galt er von Beginn an als Mann ohne Prinzipien, sein Kurs als „Opportunismus mit menschlichem Antlitz“, wie es der Historiker Tony Judt einmal formulierte. Dabei war Blair auch ein Kämpfer. Zur Hochform lief er auf, wenn es gegen seine eigene Partei ging. Kritiker sahen in ihm den Prototyp des Politikers, der nur auf Meinungsumfragen schielt – aber als es um den Irakkrieg ging, kümmerte er sich nicht um Volkes Stimme. Mehr noch: Nicht nur die Mehrheit seines Kabinetts war gegen den Krieg. Gerüchten zufolge lehnte ihn auch seine Gattin Cherie Booth ab.

So einem wird man nicht mit vorschnellen Urteilen gerecht. Heute sind sich alle sicher: Blair, das ist ein Politiker ohne Substanz, aber ein glänzender Verkäufer, der das Politikverkäufertum mit seinen Spin Doctors zur Meisterschaft brachte. Dabei ist eher das Gegenteil richtig. Auf lange Sicht bescherte Blairs Politmarketing ihm eine schlechte Presse. Die Erfolge seiner Politik hat er miserabel verkauft.

Eigentlich kann sich Tony Blairs Bilanz durchaus sehen lassen. Wirklich gescheitert ist er nur an seinem großen Ziel, Großbritannien in die Eurozone zu führen. Aber sonst? Die Wirtschaft brummt, 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze sind in Blairs Amtszeit geschaffen worden. Der Premier führte ambitionierte Sozialprogramme ein, etwa für jugendliche Arbeitslose. Heute liegt die britische Arbeitslosenrate auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren. Kids ohne Zukunft bekamen Ausbildung und Job, alleinerziehende Mütter Childcare-Kredite, Geringverdienende eine negative Einkommensteuer und alle mehr Kinderbetreuungplätze – dieser „New Deal for Lone Parents“ gab vielen jungen Frauen buchstäblich ihr Leben zurück und hob die Beschäftigtenrate merklich. Und das „Sure Start“-Programm hat über eine Million Kinder aus der Armutszone bugsiert.

Sieben Jahre lang hatte Blair höhere Zustimmungsraten als je ein britischer Premier vor ihm. Erst der tiefe Fall im Irakkrieg beendete den Honeymoon. Wobei auch hier Blairs Besessenheit, die Nachrichtenlage, den „Spin“, zu kontrollieren, das Debakel erst perfekt machten. Man erinnere sich nur an die Affäre um den Suizid des Biowaffenexperten David Kelly, der Selbstmord beging, weil er als Hauptquelle einer BBC-Berichterstattung enttarnt wurde, in der behauptet wurde, die Regierung habe Geheimdienstberichte „aufgebauscht“. Hätte damals Blairs Spin Doctor Alasdair Campbell dem frühmorgendlichen Bericht nicht weiter beachtet – das Ganze wäre schnell in der Fülle anderer halbwichtiger Nachrichten untergegangen. Erst durch die aggressive Gegenstrategie wurde daraus ein Fiasko, von dem sich Blair nicht mehr erholen konnte.

Heute ist die Labour Party froh, dass sie ihren Premier los ist. Er hinterlässt seine Partei derangiert. Gerade 27 Prozent der Wähler stimmten bei den jüngsten Regionalwahlen für Labour, satte 41 Prozent für die Tories. „Ein hervorragendes Sprungbrett“ für seinen Nachfolger sei das, kommentierte Blair – und machte dazu ein völlig ernstes Gesicht. Er ist immer noch ein guter Schauspieler.

Gordon Brown wird als Nachfolger wohl auch deshalb problemlos installiert werden, weil unter dem Nochvorsitzenden eine Kultur der Angst das Parteiklima vergiftet hat. Wer es wagte, gegen Blair aufzumucken, wurde als Feind behandelt. Blairs Klüngel führte einen „leninistischen Regierungsstil“ (Guardian) ein. Angst war das Bindemittel auf allen Ebenen. Blairs Führungscrew war förmlich besessen von der Angst, Labour würde wieder von der Macht weggefegt, wenn die Partei nicht einheitlich aufträte. Funktionäre und Mandatsträger ihrerseits fürchteten das Disziplin- und Kontrollregime der Führung.

Dass dieses Regime weiterwirkt ist einer der Gründe, warum niemand gegen Brown anzutreten wagt, obwohl es allgemein als Gewissheit gilt, dass dieser tiefgekühlte, charmefreie Holzklotz die Partei wohl nur schwerlich aus ihrem Tal führen kann. Dabei ist weitgehend unbestritten, dass Brown einer der fähigsten Finanzpolitiker der Gegenwart ist und die meisten wirtschafts- und sozialpolitischen Fortschritte, die während Blairs Ära erzielt wurden, auf sein Konto gehen.

So verabschiedet sich Blair als seltsamer Gescheiterter. Als einer, dem vieles gelungen ist. Der seine Erfolge zu wenig herausstrich. Der wegen seiner Misserfolge in Erinnerung bleiben wird. Ein bisschen kurios ist das schon. Dreimal wurde Blair mit satten Mehrheiten gewählt: 1997, 2001, 2005. Er wurde nicht abgewählt und auch nicht von seiner Partei gestürzt. Noch seinen Abgang darf er selbst orchestrieren – ein Privileg, das weder Margaret Thatcher noch Winston Churchill vergönnt war.

Nicht wenige Politiker würden sich wünschen, so zu scheitern.