„Sehnsucht nach Natur“

STADTTIERE Das Kulturfestival „Nordwind“ präsentiert im Themen-Schwerpunkt „Urban Species“ Performances und Installationen im Spannungsfeld zwischen Stadt und Land und Mensch und Tier

■ 46, geboren im rumänischen Hermannstadt, kam 1978 nach Heidelberg. Nach dem Studium an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Saarbrücken lebte und arbeitete sie als Schauspielerin in Wien, Stuttgart, Frankfurt, Bochum und Bukarest. 2006 gründete sie das Festival „Nordwind“, das sich zu einer der wichtigsten Plattformen für nordische Künste in Europa entwickelt hat.

INTERVIEW ROBERT MATTHIES

taz: Frau Ciontos, Sie zeigen vor allem Arbeiten von Künstlern aus Skandinavien. Machen die die Natur anders zum Thema?

Ricarda Ciontos: Natur taucht immer wieder als Inspirationsquelle, Gegenstand der Auseinandersetzung oder Verfremdung auf. Es hat viel damit zu tun, dass das Thema Natur durch die dünne Besiedlung eine viel selbstverständlichere Rolle spielt: dort zu sein, sich mit ihr auseinanderzusetzen, sich ihr auszusetzen. Die raue, auch unwirtliche Natur wird in künstlerischer Hinsicht als Reibungsfläche benutzt. Bei vielen Künstlern fließt die Auseinandersetzung mit der Einsamkeit, der Natur, auch den Witterungsverhältnissen ein, im Tanz, in der bildenden Kunst, aber auch in der Musik.

Diese Arbeiten sind sinnlicher als die gezeigten Produktionen aus Deutschland.

Das stimmt. Die „Wolfsafari“ von Lauri Kontula ist eine Safari mit den Sinnen des Wolfes durch die Stadt Hamburg. Da lernt man, sich völlig anders zu bewegen. Man wird in entlegene Teile der Stadt gebracht und muss sich über Wolfsgeheul wieder zusammenfinden. Aber ohne dass man einen Wolf imitiert. Das ist kein Kasperltheater, sondern es wird eine merkwürdige Erfahrung von Gruppe und von minimalen Veränderungen in den Körpern erzeugt. In der performativen Installation „ZOO“ des schwedischen Duos Johan Forsman und Johan Rödström wiederum adoptiert man eine Kakerlake. Das ist automatisch sinnlich, man geht mit dem Tier um, muss es anfassen, was man normalerweise nicht tun würde.

In den deutschen Beiträgen geht es eher darum, wie sich der Mensch in Umwelten bewegt.

Genau. Der Club Real zum Beispiel macht eine spannende Arbeit zum Thema Biotechnologien. Der Ansatz ist erst mal sehr wissenschaftlich, wird dann aber auch sinnlich erfahrbar, weil es um einen fiktiven Schwangerschaftskurs geht, wo es um die Geburt des ideal-resistenten Babys geht. Da geht es viel um die Optimierung menschlichen Grundmaterials. Wie weit gehen wir, um alle Fehler, die auftauchen könnten, zu eliminieren?

Was macht es für den städtischen Menschen interessant, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen?

Es gibt gerade in großen urbanen Räumen eine große romantisierte Sehnsucht nach Natur und Naturnähe: Das geht von Ferienhäusern in Brandenburg bis zum Bio-Ei vom Hof nebenan. Aber es ist oft eine Antisehnsucht, also Natur gegen Übertechnologisierung.

Steckt dahinter ein Wunsch nach verlorener Wahrhaftigkeit?

Es ist eine Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, Ursprung, Ungeschminktheit und Klarheit. Wie viel Technologie brauchen wir zum Überleben? Das ist eine fast amische Sehnsucht, wenn die Leute sagen: Will ich überhaupt noch ein Smartphone haben? Das hat viel mit der Technologisierung des privaten Raums zu tun.

Statt bloßem „Zurück zur Natur“ geht es also um eine Sehnsucht nach neuen Formen von Gemeinsamkeit in einer technologisierten Welt?

In skandinavischen Ländern ist die Tillsammans-Idee sehr stark, also dieses Zusammen-gegen-die-Vereinzelung. Es hat viel mit Stress in Großstädten zu tun und der Frage: Kann man ohne die technischen Angebote noch gemeinsam überleben?

■ Do, 16. 10., bis Sa, 18. 10., Kampnagel. Infos und Programm: www.kampnagel.de/urban-species/