„Mit dem Kopf arbeiten“

TURN-WM Trainerin Carol-Angela Orchard über die Gefahr von Erfolgsabhängigkeit und gar nicht so schlimme Stürze

taz: Frau Orchard, bei der Turn-WM in Nanning sind drei von fünf deutschen Turnerinnen vom Balken gefallen. Das Teamfinale wurde verpasst. Sie sind für das deutsche Team die Balkenexpertin, war das nicht schrecklich?

Carol-Angela Orchard: Nein, es war nicht schrecklich! Es gab exzellente Momente, in denen ich ganz klar Fortschritte erkennen konnte. Die deutsche Cheftrainerin Ulla Koch hat zu mir gesagt: Jetzt bekommen unsere Mädchen so viele Punkte mit Sturz, wie sie vor ein paar Jahren ohne Sturz bekommen haben. Das tröstet mich ein wenig.

Was machen Sie beim Deutschen Turnerbund?

Seit ich vor ein paar Jahren von Kanada, wo ich 30 Jahre lang in Toronto einen eigenen Club hatte, nach England gezogen bin, arbeite ich als Freelancerin. Anfang 2013 habe ich mit den Deutschen begonnen, ich bin bei allen Lehrgängen dabei, und manchmal bin ich in den Stützpunkten.

Sie gelten weltweit als Balkenspezialistin. Was machen Sie anders?

Ich habe ein spezielles System. Das ist sicher nicht der einzige Weg, Balken zu trainieren, aber der einfachste: Ich versuche, alles auf das Notwendigste zu reduzieren und bei der Turnerin völlige Unabhängigkeit zu entwickeln.

Was geschieht, wenn alles perfekt läuft und die Turnerin doch fällt?

Unter extremem Stress, und eine WM-Übung ist extremer Stress, fallen die Mädchen in das zurück, was im Grunde eine natürliche Reaktion ist: vorsichtig sein, den Zweifel zulassen, dass es nicht klappen könnte. Der Gedanke ist: Bloß nicht runterfallen! Wenn sie das denken, sind sie meist schon unten.

Die Übungen sind deutlich schwieriger geworden. Was steht im Training im Vordergrund: die Arbeit am Selbstvertrauen oder an Höchstschwierigkeiten?

Ich bin überzeugt, dass man immer mit dem Kopf arbeiten muss. Es geht nie nur um die körperliche Fertigkeit. Jedes Wort, das ich sage, bewirkt etwas, darüber muss ich mir im Klaren sein. Ich versuche, die Mädchen positiv anzutreiben. Ich fordere viel, bin ziemlich streng, aber auf eine positive Art. Sie müssen die Technik beherrschen und in Stressmomenten von sich selbst überzeugt sein. Das geht auf keinen Fall, wenn ich sie ständig runtermache.

In Deutschland hängen viele Trainerjobs von den Ergebnissen der Sportler ab. Was halten Sie davon?

Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum die Kinder in Deutschland nicht ab einem bestimmten Leistungsniveau mehr selber zahlen. In Kanada, den USA, Großbritannien, überall zahlen sie, und wenn sie das nicht können, gibt es Stipendien. Aber das Prinzip ist, dass die Eltern zahlen und davon der Trainer bezahlt wird. Ein Trainer braucht auch Selbstvertrauen und Ausgeglichenheit in seinem Leben. Wenn der Job des Trainers von Ergebnissen – womöglich von Zwölfjährigen – abhängt, ist das keine gute Situation, das kann schnell zu Missbrauch führen. Da kann man schnell aus den Augen verlieren, was eigentlich unser Job ist.

Bei Turntrainern gab es in den letzten Jahren häufiger solche Vorwürfe. Wir verstehen Sie Ihren Job?

Meine Philosphie ist: Wir versuchen, eine unabhängige, selbstsichere und kompetente junge Frau zu entwickeln. Wenn das gelingt, dann ist das auch ein großartiger Wettkampftyp. Ich glaube, heute ist es notwendig, solche Athleten zu entwickeln, die gewinnen wollen. Wir können nicht nach dem Motto „Druck, Druck, Druck“ arbeiten. Vielleicht hat das mal funktioniert, und vielleicht arbeiten einige Trainer heute noch so, aber für mich ist das ein Konzept aus ganz alten Zeiten.

Können Sie an Turnerinnen deren Trainer erkennen?

Ja, sehr oft. Das ist dann, als würde man in einen Spiegel schauen, wenn man die Turnerin nach Jahren wiedertrifft. Es gibt immer unverwüstliche Mädchen, denen es okay geht, was immer der Trainer mit ihnen anstellt. Aber die Regel ist, dass diese jungen Mädchen zerbrechlich sind. Da ist es einfach, in ihre Köpfe reinzukommen. Für mich bedeutet der Trainerjob eine enorme Verantwortung: Diese kleinen Wesen werden mir anvertraut, damit ich etwas mit ihnen tue. Das kann nicht nur Turnen sein! Es muss auch um Fähigkeiten gehen, mit denen sie später das Leben meistern. Ich bin überzeugt, das macht sie auch zu besseren Turnerinnen.

INTERVIEW: SANDRA SCHMIDT