Das Bayreuth von Berlin

In der Hauptstadt ist eine düstere Parallelwelt der aggressiven Alten entstanden

Die „Wotan-Jungs“ wiegen sich im dunklen Rhythmus der spätromantischen Klänge

Wuchtig wallen die gewaltigen Klänge silberner Hörner durch die regennassen Straßenschluchten. Der harte Rhythmus brachialer Pauken wird von den grauen Mauern brutal zurückgeworfen. Die kühle Morgenluft ist erfüllt von der ganzen Härte Richard Wagners, seiner Ouvertüre zu „Rienzi“. Kein Vogel wagt es, zu zwitschern, nur ein paar Alte sitzen auf den Bänken am Cosimaplatz und wiegen sich wie im Rausch im aggressiven Rhythmus der Musik.

Wir sind unterwegs im Berliner Problemviertel Friedenau. Das Bayreuth von Berlin, wie ein Hamburger Nachrichtenmagazin einmal schrieb – nach der grauenhaften Stadt in Bayern, in der jener Richard Wagner zu Hause ist, der das Leben hier, so scheint es, vollkommen im Griff hat. Ganze Straßenzüge in diesem düsteren Viertel sind inzwischen nach Figuren Wagners benannt, eine echte Parallelwelt: Am Cosimaplatz lungern Käthe und Wilhelm auf einer Parkbank herum. Käthe ist ganz in Beige gekleidet und hat ihre Haare provozierend silberblau gefärbt. Wilhelm trägt ein grünes Lodenjäckchen und auf dem Kopf einen keck gemusterten Hut mit einem frechen Gamsbart. Dafür musste ein gefährdetes und geschütztes Tier sterben! Als er uns sieht, schüttelt Wilhelm voller Wut seinen knorrigen Spazierstock, der mit silbernen Wanderplaketten verziert ist, und ruft uns etwas zu, das wie „Rente, Rente!“ klingt.

Normalerweise würde sich in diese abgelegene Gegend kein Fremder wagen, durch die Isolde-, Sieglinde- oder Ortrudstraße traut sich schon lange kein Jugendlicher mehr allein. Es ist zu gefährlich. Die renitenten Rentner würden einen Jugendlichen sofort als Opfer erkennen und „abziehen“, wie es in ihrer Sprache heißt, wenn man jemandem gnadenlos hinterher zetert. Hier patrouilliert die Polizei nur noch in Mannschaftsstärke und in „Wagner-Wannen“, wie die großen Polizeiwagen inzwischen im Volksmund heißen. Denn, wenn es wieder einmal Randale gibt, schallt zur Beruhigung der Alten aus den Lautsprechern auf dem Wagendach Rap-Musik von Sido oder Bushido. Nur cooler Hiphop-Sound kann die erregten Silberköpfe dann noch einigermaßen im Zaum halten.

Wir allerdings haben auf unserem Erkundungsgang über den Cosimaplatz nichts zu befürchten. Bei uns ist Konrad. Der rüstige 89-Jährige war früher selbst in der Szene, wie er sagt. Jetzt ist er Streetworker und arbeitet bei „Immergrün“, einem Hilfsprojekt, das Alte von der Straße holen und ihnen Alternativen bieten will. Konrad kennt sie alle: die „Wagnerianer“, die „Cosima-Mädels“ oder die „Wotan-Jungs“, wie die Altenbanden in Berlin heißen.

Schon lange warnt die Bundesprüfstelle für altengefährdende Medien in Bonn vor der erschreckenden Entwicklung. Immer mehr Alte rotten sich zusammen und haben nur noch eins im Kopf: Gewalt. Aufgeputscht von den barbarischen Arien ihres Lieblingsmusikers Wagner lungern sie auf den Straßen der Problemviertel – ohne Rente, ohne Aufgabe, ohne Ziel. Die Musik des rohen Bayreuthers wird zur Droge, die immer mehr Alte zu unbarmherzigen Taten anstachelt.

All das schlägt sich nieder in den soeben veröffentlichten Polizeistatistiken, die zeigen, dass die Altenkriminalität in Großstädten steigt und steigt. Gerade der mickrige finanzielle Hintergrund vieler Alter führt dazu, dass sie sich Straßenbanden anschließen und so zu einer ernsthaften Bedrohung für unsere Gesellschaft werden. Vorwiegend junge Politiker fordern deshalb, dass die Altersbeschränkungen für klassische Musik nach unten gesetzt werden. Doch noch haben die Altenschützer nicht reagiert. Manche Kritiker werfen den Mitarbeitern der Bundesprüfstelle für altengefährdende Medien sogar vor, dass sie selbst zu alt und abgestumpft seien gegenüber den Brutalitäten der Hochbetagten. Was allerdings kein Wunder ist, denn die überlasteten Prüfer sehen mittlerweile den ganzen Tag nichts anderes mehr als blutige Wagner-Inszenierungen, die als CDs oder DVDs heimlich in den Altersheimen kursieren. Experten sprechen bereits von einem gigantischen Schwarzmarkt, dessen Auswirkungen auf den einzelnen Rentner kaum mehr beherrschbar sind.

Das hat auch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen in Hannover herausgefunden. „Die Knacker sind total kaputt, Mann“, fasst Institutsleiter Christian Pfeiffer die Ergebnisse seiner jahrelangen Untersuchungen zusammen. „Voll Banane sind die im Kopf, von Wagner und so’n Zeug, yo Mann!“, erklärt Professor Pfeiffer und rückt sein Basecap in die rechte Schieflage. Besonders die Vorspiele und Ouvertüren Wagners würden die Alten aggressiv machen, hat der Betagtenforscher Pfeiffer erkannt. Tempo und Klang, Artikulation und Phrasierung hat er genaustens untersucht und festgestellt, dass ein typisches Wagner’sches Dauervibrato die Alten geradezu in die Gewalt treiben muss. „Total krasser Sound. Geht voll auf die Omme“, meint Professor Pfeiffer. Besonders das Vorspiel zu „Rienzi“ habe es den Alten angetan und sei leider kaum mehr aus der Öffentlichkeit wegzudenken, da es die Titelmusik ihrer sonntäglichen Lieblingssendung sei: „Spiegel TV“. Ein National-Magazin, das seine greisen Fans gern mit aufgebauschten Themen zu Hassgruppen wie Jugendliche oder Ausländer bedient.

„Manche von ihnen müssen nur die Titelmelodie von ‚Spiegel-TV‘ hören und drehen völlig durch“, meint auch Konrad, der uns einem besonders harten Fall vorstellt: Gottfried. Regelmäßig würden am späten Sonntagabend Jugendliche durch randalierende „Wagnerianer“ verletzt, bestätigt der 92-Jährige, der der Polizei als Rädelsführer der „Wotan-Jungs“ bekannt ist. Er trägt einen brutal grauen Anzug und lässt provokant die Goldzähne aufblitzen. Gottfried ist der ungekrönte Herrscher über ein anderes Berliner Problemviertel, das in Charlottenburg liegt, rund um den Richard-Wagner-Platz.

Schon im U-Bahnhof trifft man auf Bilder und Motive aus Wagner-Opern. Die darum drapierte Wandverkleidung mit gezackten dunkelblauen und gelben Fliesen spiegelt das wilde Lebensgefühl der Alten wider. Auf die Bilder aus dem Schaffenswerk Richard Wagners sind sie alle besonders stolz: Gottfried, Friedrich und die anderen von den „Wotan-Jungs“, die hier den ganzen Tag sinnlos herumhängen und sich eine Oper nach der anderen reinziehen.

Keiner von ihnen ist unter 80 Jahre alt, nicht einer geht arbeiten. „Die Alten von heute!“, zischt ein junger Mann im adretten Hiphop-Outfit, der kopfschüttelnd vorbeigeht. Früher seien die Alten die Armee der Unsichtbaren gewesen – still, ruhig, passiv. Heute würden sie zurückschlagen, erklärt Gottfried und ruft dem jungen Hiphoper schonungslos seine Meinung hinterher: „Sie ungehobelter Flegel!“

Am schlimmsten seien die Vorurteile der Jugendlichen, beklagt sich der 87-jährige Friedrich. Wenn nur irgendwo eine Fensterscheibe zu Bruch gehe, sei man als Alter heutzutage sofort der Sündenbock. Dadurch würde sich, so Gottfried, ein enormer Frust unter den Alten anstauen, der sich jedoch meist nur untereinander entlade. Dann könne es durchaus passieren, dass die „Wotan-Jungs“ aus Charlottenburg mit ihren Spazierstöcken in Friedenau Jagd auf die konkurrierenden „Wagnerianer“ machen würden.

Gelangweilt schaltet Gottfried jetzt den mitgebrachten Schallplattenspieler an und legt eine Langspielplatte auf: „Parsifal: Prelude“ – eingespielt von dem Gangsta-Wagnerianer „Sir“ Roger Norrington. Und schon wiegen sich die „Wotan-Jungs“ im dunklen Rhythmus der spätromantischen Klänge.

Schockiert verlassen wir die Szene. Eins wissen wir nun: Es tobt ein Generationenkrieg in unseren Städten, dem wir alle, ob jung oder alt, uns stellen müssen, um das Schlimmste zu verhindern. MICHAEL RINGEL