Emanzipation mit der Muttermilch

Die Künstlerin Kara Walker zieht den Zuschauer mit ihren lebensgroßen und trotzdem filigranen Scherenschnittarbeiten buchstäblich hinein in die afroamerikanische Geschichte. Nun ist ein Katalog erschienen, der so gelungen ist, dass er sogar einen Museumsbesuch nahezu überflüssig macht

VON INES KAPPERT

Die Arbeiten der US-amerikanischen Künstlerin Kara Walker sind wunderschön verspielt, vielschichtig und aggressiv. Ihre legendären Scherenschnitte leben von ihrer Filigranität und Größe und davon, dass Walker sie sehr sorgsam im Ausstellungsraum platziert. Entsprechend schwierig ist es, ihre Kunst in ein Buch zu übertragen. Im Falle des jüngst erschienenen Katalogs „My Complement, My Enemy, My Oppressor, My Love“ aber ist es gelungen. Insofern er jedem ans Herz gelegt sei, unabhängig davon, ob er oder sie die Gelegenheit hatte, die noch laufende Werkschau im Walker Art Center in Minneapolis zu besuchen oder vielleicht sogar plant, diesen Oktober nach New York zu fliegen. Hier wird die Ausstellung vom 11. 10. bis zum 3. 2. 2008 im Whitney Museum zu sehen sein.

1994 hatte Kara Walker erstmals mit ihren lebensgroßen und doch so filigranen aus schwarzem Karton angefertigten Scherenschnitten die gängige Repräsentation von Schwarzen und Weißen im kollektiven Gedächtnis der USA angegriffen. Und damit international für Aufmerksamkeit gesorgt. Heute ist sie berühmt, und deswegen nicht weniger umstritten.

Das Provozierende an Walkers Arbeit mit rassistischen Stereotypen ist ihre Doppelbödigkeit und ihr krasser Humor. Bereits der Titel der Ausstellung pointiert eine grausame Ambivalenz, die nämlich von der libidinösen Bindung an den weißen Peiniger: „Mein Kompliment, Mein Feind, Mein Unterdrücker, Meine Liebe“. Er ist einer ihrer Text-Arbeiten entnommen: „Letter of a Black Girl“ (1998), lautet der Titel. Dieser Brief umreißt auch Walkers künstlerisches Projekt. So heißt es hier: „Jetzt, da du vergessen hast, wie du deinen Kaffee magst und warum du deine frömmelnde Faust gen Himmel gereckt hast, ebenso wie die Gründe für deine atemberaubende Sammlung von Afrikanischer Kunst, und den Krieg, den wir gemeinsam gefochten haben … Deshalb bin ich jetzt alleine zurückgeblieben, um Meine GANZE GESCHICHTE erneut zu schaffen, ohne deine Hilfe.“ (Übersetzung IK) Die Geschichte noch einmal neu und diesmal vollständig zu erzählen, mithilfe des ironischen Einsatzes der klischierten Darstellung von Machthabern und Depravierten, das ist das Anliegen.

Walker bringt ihre Scherenschnittfiguren, die Silhouetten der Klischees also, zumeist direkt auf die – weißen – Museumswände auf. Deren schiere Größe zwingt die Betrachter dazu, ihnen buchstäblich Schritt für Schritt zu folgen. Anders aber, als es die Scherenschnitttechnik nahelegt, changieren Walkers Arbeiten zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse. In einer rassistischen Welt, so ließe sich interpretieren, gibt es für niemanden Unversehrtheit oder Unschuld. Nur sehr unterschiedlich verteilte Verantwortlichkeiten – und Erinnerungen. Siehe „The End of Uncle Tom and the Grand Allegorical Tableau of Eva in Heaven“ von 1995.

Gleichfalls zentral sind Walkers zahlreiche Textarbeiten. In „Many Black Women (Certain Types)“ etwa tippt sie mit Schreibmaschine auf dreißig Karteikarten gängige Zuschreibungen an schwarze Frauen. Eine davon verlautbart: „Many Black Women Would Never Date A White Man. – Many Black Women Work Hard. – Many Black Women Have High Blood Pressure. – Many Black Women Are Living.“ Mit vermeintlicher Naivität führt Walker Alltagsgewohnheiten als verankert in historisch gewachsenen Machtverhältnissen zwischen Schwarz und Weiß vor. Denn es ist klar, wer die Frage nach den Präferenzen stellt, also serviert, und wer antwortet, also bedient wird. Bis heute.

Gelungen nun ist der Katalog, weil er eine sorgsame Werkauswahl bei hochwertigem Druck um gut lesbare Texte ergänzt. Der Essay des Ausstellungskurators Philippe Vergne zeigt die Bezüge zur Repräsentationskritik etwa eines Daniel Buren und dessen Streifenarbeiten auf, ebenso wie er Verbindungen zu Andy Warhol nachzeichnet, den Walker selbst aufgrund dessen kühler Distanz zu seinem Gegenstand als eine Art Vorbild bezeichnet hat. Walker ist eine Künstlerin, die sich mit großer Genauigkeit im Feld der Kunst zu platzieren weiß. Also dort, wo die Repräsentationskritik an Schwarz/Weiß weiterhin eher unterrepräsentiert ist. In einem zweiten Text hat Yasmil Raymond ein „Lexikon“ erarbeitet, das unprätentiös immer wiederkehrende Elemente in Walkers Arbeiten auflistet und erläutert: Fäkalien, Schnürstiefel, Mordwerkzeuge, Nabelschnüre. Um nur einige zu nennen.

Warum tragen manche Figuren nur einen Schuh? Raymond versteht sie als eine Anspielung darauf, dass Sklaven mehrheitlich zur Barfüßigkeit verdammt waren. Insofern der fehlende zweite Schuh einen nicht ganz gelungenen Diebstahl andeutet oder eine infantile Intimität zum Sklavenhalter. Gleich Kindern, die im Spiel die Kleidungsstücke der Erwachsenen anprobieren.

Mit den vielfach zu findenden Fäkalien, die sich als Schmutzspuren auch durch „The End of Uncle Tom …“ ziehen, evoziert Walker für sie die Zuschreibung, Schwarze besäßen keine Triebhemmung, benähmen sich wie Tiere, schissen überall hin. Die parallel dazu männlichen Aftern entwachsenden Nabelschnüre, an denen Embryonen hängen, liest Raymond als ein Zeichen für die allgegenwärtige Abhängigkeit von patriarchalen Zeugungsmythen.

Auch die Muttermilch kehrt stetig als Allegorie wieder. In „The End of Uncle Tom …“ saugen drei Frauen gierig am Busen der anderen, während sich das bedürftige Baby umsonst nach der Brust reckt. Dieses Motiv spiele auf die erzwungene Ammentätigkeit am weißen Säugling an. Zu diesem Zweck wurden Sklavinnen häufig von ihren eigenen Kindern getrennt. Das Stillen von schwarzen Frauen untereinander figuriere einerseits die Bindung an eine, mit der Muttermilch aufgesogene Geschichte der Repression – sowie die Emanzipation von ihr. Denn der Zwang findet sich auch konterkariert von einer lesbischen Lust, also der Loslösung vom Diktat des (weißen) Patriarchats.

Das Faszinierende an Walker ist immer wieder, wie unnachgiebig sie allen Ambivalenzen zum Trotz die rassistische Bildsprache der Minstrel Shows und ihrer Ausläufer kommentiert, welche das weiße Amerika so lange amüsiert haben und wohl partiell immer noch tun. Demgegenüber bewirkt Walkers schwarzer Humor verlässlich, dass das Lachen im Hals stecken bleibt und endlich eine andere Geschichte erzählt wird.

Kara Walker: „My Complement, My Enemy, My Oppressor, My Love“. (engl.), Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, Walker Art Center, Minneapolis 2007, 418 Seiten, 39,80 €