Viva Amnesia!

Die getrübte Erinnerung ihres einstigen Insolvenz-Beraters belastet die Beginenhof-Vorstände – während sie ihn entlastet. Dumm nur, dass die Aussage den Akten der Senatskanzlei widerspricht

Dr. Michael St. fasst sich in den Nacken und blickt dabei, leicht verlegen, nach links

von Benno Schirrmeister

Gedächtnislücken sind nützlich. Besonders vor Gericht. Juristen wissen das. „Ich weiß nicht einmal“, sagt Dr. Michael St. als Zeuge im Beginenhof-Prozess, „ob ich bis zum Ende bei der Veranstaltung geblieben bin.“

Dr. Michael St. aus L. ist von Beruf Rechtsanwalt. Und bei der Veranstaltung handelt es sich um eine Vollversammlung der Genossinnen des Bauprojekts in der Neustadt. Stattgefunden hat sie Mitte Mai 2001. Wie viele Personen im Saal waren, ob fünf oder 50 oder mehr – Dr. St. hat keine Ahnung. Er erinnert nur, dass ihm das damals „ein bisschen peinlich“ gewesen sei. Verkündet haben will Dr. St. dort nämlich die unangenehme Botschaft, „dass eigentlich schon Insolvenzantrag hätte gestellt sein müssen“. Wie die Reaktionen gewesen seien, will Verteidiger Erich Joester wissen. Das Gedächtnisbild des Dr. St. wird schärfer: „Relativ gelassen“ darüber hinweggegangen sei die Versammlung. Keine Diskussion? „Nein.“ Keine Nachfragen? „Nein.“

So also haben, laut Dr. St. die Beginen die Nachricht aufgenommen, dass ihr Projekt und ihr Geld bereits über die Wupper gegangen sind. Erstaunlich. Oder vielleicht auch nicht: Angeklagt sind die ehemaligen Genossenschafts-Vorstände Erika R.-N. und Elke S.-P. der Insolvenzverschleppung. Dr. Michael St., erfahren im Insolvenzrecht, hat für sie gearbeitet – als Berater. Folglich wäre er, wenn er nicht rechtzeitig auf Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung hingewiesen hat, haftbar.

Dumm nur, dass er es versäumt hat, die unangenehme Erkenntnis auch zu Papier zu bringen. In seinen eigenen Akten, die er konsultiert hat, um sein Gedächtnis aufzufrischen, hat er jedenfalls kein entsprechendes Schreiben an die Genossinnenschaft gefunden. Er hat auch – Viva Amnesia! – allergrößteMühe zu rekonstruieren, wann sein Mandat geendet sein könnte. Nur, wann es angefangen hat, fällt ihm schließlich ein: „Ich glaube, das war an meinem Geburtstag“, sagt er. Da habe er sich erstmals mit Elke S.-P. getroffen, in Wilhelmshaven. Also am 12. April 2001.

Kerndatum ist aber, so oder so, der 20. April. Da gab es eine Besprechung. In der Senatskanzlei. Thema: Wie lässt sich die Pleite abwehren? Denn, dass von den fest einkalkulierten öffentlichen Zuschüssen bislang nicht ein Pfennig geflossen war, ist unbestritten. Dass ein Ausbleiben der Gelder – ein Drittel der Bausumme – die Insolvenz bedeuten musste, war allen Beteiligten klar. Mehrfach hatten die Beginen, um Druck zu machen, darauf hingewiesen: Denn der erklärte politische Wille war, das Projekt durchzuziehen. Er sei „verliebt ins Gelingen“, so ließ sich Henning Scherf diesbezüglich zitieren. 7,5 Millionen Mark EU-Gelder hatten die Frauen beantragt, 4,04 Millionen waren versprochen. Für die Anträge in Brüssel und für die Vergabe der Mittel zuständig gewesen wäre das Wirtschaftsressort. Das leitete damals, eher kein Frauentyp, Josef Hattig (CDU). Bei dem Treffen, so erinnert nun Dr. St., seien die öffentlichen Zusagen „des Wirtschaftssenators“ plötzlich „für nullwertig“ erklärt worden. „Keinen Pfennig“ werde es geben. Wer das gesagt habe? „Irgendein Mann aus dem Wirtschaftsressort.“

Nachdem am Vormittag der ehemalige Geschäftsführer der Baufirma W. ausgesagt hatte, dass deren Pleite in keinerlei Zusammenhang mit dem Beginen-Projekt stand, wäre das ein Tiefschlag für die Genossinnen: Wäre, denn dafür müsste sicher sein, dass die Aussage von Dr. St. der Wahrheit entspricht. Entspräche sie der Wahrheit, dann hätte mit dieser Mitteilung die Drei-Wochen-Frist begonnen, innerhalb der die Genossinen zum Konkursrichter hätten gehen können. Allerdings findet sich das Protokoll der Besprechung in den Akten der Senatskanzlei. Es hält weder die Absage aller Unterstützung fest, noch die Behauptung, frühere Versprechen seien „nullwertig“ gewesen. „Das Wirtschaftsressort“, hält Elke S.-P.’s Anwalt Carsten Schleuchzer dem Zeugen vor, „war nicht einmal vertreten.“ Dr. Michael St. greift mit der rechten Hand in den Nacken, schaut sich dabei leicht verlegen zu seiner früheren Mandantin Elke S.-P. um: „Ach ja?“ Ihn zitiert die Akte mit einer Wenn-dann-Formulierung: Das Projekt müsse Insolvenz anmelden. Wenn die öffentlichen Gelder ausbleiben würden. Seine Worte seien diesbezüglich „klipp und klar gewesen“, sagt er nun, „denke ich“. Daran schließen sich Lösungsvorschläge fürs Finanzproblem an.

Wären das Beschwichtigungsfloskeln gewesen? Erklärungen, die niemand gewillt war, zu erfüllen? Dagegen steht die Aussage des ehemaligen Leiters der Abteilung zwei in der Staatskanzlei, die dort für Wirtschaftsförderung zuständig ist. Uwe Holtermann, heute Geschäftsführer von Bremenports, war am vorhergehenden Verhandlungstag gehört worden. Bestätigt hatte er, dass es weitreichende Finanzierungszusagen gab – zustande gekommen unter dem Druck der öffentlichen Meinung: „Wir konnten ja gar nicht anders“, die ganze Stadt habe das Projekt gewollt. Als von ihm verfasst anerkennen musste er auch eine Email. Ihr Inhalt: „Das Problem Beginenhof ist gelöst“ – und es folgen drei Ausrufezeichen. Verfasst, verschickt und abgeheftet zweieinhalb Wochen nach dem so wichtigen Treffen, am 8. Mai 2001. Unnötig mache das die spätere Befragung von Scherf keineswegs, so Joester am Rande des Prozesses. „Der ist geladen und bleibt geladen.“