berliner szenen 19.745 Tage

Lässig digital

Gebannt wie das Kaninchen vor der Schlange, wie ein Idiot im Grunde genommen, starrte ich immer wieder auf meinen Rechner während der Tag in der Blauen Stunde verging, von Ferne irgendwelche manchmal etwas riefen, ein Auto sanft vorbeifuhr. Die Zahlen bewegten sich. Wurden größer und kleiner. An und ab schwoll der Balken der Übertragungsgeschwindigkeit, dieser „e-penis“: „Remaining time: 19.475 days“.

So lange sollte es also dauern, bis ich den Rockpalast-Auftritt von den Who und Grateful Dead, 1981, Frühjahr, Grugahalle Essen, geladen haben würde. Ich hatte mir das Konzert damals bei Freunden angeguckt. Die Umstände waren existenzialistisch gewesen. Obgleich ich mir damals dauernd auf die Lippen gebissen hatte, war ich irgendwann vor dem Fernseher eingeschlafen. Das Konzert sei noch endlos bis in den Morgen weitergegangen und dabei immer besser geworden, hatten die Freunde später erzählt.

Jedenfalls meinte ich, ein biografisches Recht darauf zu haben, mir das Konzert aus dem Netz herunterzuladen. Außerdem hätte ich es mir ja gekauft, wenn es zu kaufen gewesen wäre. Gab’s aber nirgendwo. Nur irgendwo, bestimmt in der Provinz, saßen langhaarige Altfreaks, die diesen Rockpalast damals mitgeschnitten, dann eben digitalisiert und vor paar Monaten ins Netz gestellt hatten. Dieses Konzert war ein ausgelagerter Teil der eigenen und gleichzeitig ein kollektiver Träger unterschiedlicher Erinnerungen. Eigentlich genügte es mir, dass es da war; es war gar nicht notwendig, es runterzuladen. Vielleicht tat ich es nur, weil mir die insiderwitzartige Meldung so gut gefiel: „Remaining time: 19.475 days“. Das wirft man dann so lässig ein. DETLEF KUHLBRODT