Es gibt Wichtigeres als Kobani

TÜRKEI Trotz internationaler Appelle: Offenbar will Ankara über die Aufnahme von Flüchtlingen hinaus nichts für die von der Terrormiliz IS bedrängte syrische Kurdenstadt tun. Auch USA scheinen den Ort aufgegeben zu haben

Die USA wollen Ankara vor allem für eine aktivere Rolle im Kampf gegen IS gewinnen

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Die Türkei muss endlich eingreifen. Ein Massaker in Kobani muss unbedingt verhindert werden. Die Kurden dort brauchen Nachschub und Waffen.“ Unisono forderten am Wochenende Politiker von CDU, SPD, Grünen und Linkspartei die Türkei auf zu handeln, um die mehrheitlich von Kurden bewohnte Stadt auf der syrischen Seite der Grenze zur Türkei zu retten. Und wenn in Ankara dennoch nichts passiert? Dann muss man den türkischen Botschafter einbestellen und eine scharfe Rüge aussprechen.

Allerdings steht zu vermuten, dass den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan diese Drohung aus Deutschland nicht sonderlich beeindrucken wird. Eher schon für Aufmerksamkeit sorgte da die Ankündigung des derzeitigen Chefs der türkisch-kurdischen Guerilla PKK, Cemil Bayik, der am Samstag im Norden des Irak dem ARD-Reporter Reinhard Baumgarten im Interview sagte, man werde die mit Beginn der Friedensgespräche zwischen PKK und türkischer Regierung vor eineinhalb Jahren aus der Türkei abgezogenen Kämpfer wieder zurückschicken, weil der kurdisch-türkische Friedensprozess zu scheitern drohe.

Darauf hat Erdogan bereits reagiert – aber nicht, indem die Türkei nun Hilfe für Kobani über die Grenze ließ. Stattdessen bestritt er jeglichen Zusammenhang zwischen dem Kampf um Kobani und dem Friedensprozess mit den Kurden in der Türkei – und den Aufruhr der letzten Woche zur Verschwörung ausländischer Kräfte erklärte. Die Regierung in Ankara hat sich offenbar entschieden, über die Aufnahme von Flüchtlingen hinaus nichts für Kobani zu tun.

Der türkische Präsident, sein Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und sein Generalstabschef Necdet Özal sehen in den Kurden in der von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) bedrohten Stadt schlicht einen Ableger der PKK, mit der die türkische Armee sich in den letzten 30 Jahren einen blutigen Guerillakrieg geliefert hat. „Warum sollen ausgerechnet wir diese Kurden retten“, fragen sich in der Türkei nicht nur Islamisten, die mit dem IS sympathisieren, sondern Millionen normale Wähler, denen man seit Jahrzehnten erzählt, dass die PKK eine blutige Terrororganisation ist.

Zwar verhandelt Ankara seit knapp zwei Jahren mit Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Führer der PKK, über einen Weg zum Frieden. Aber an dessen erfolgreichem Ende soll stehen, dass die PKK die Waffen niederlegt – und nicht, dass die türkisch-kurdische Guerilla bzw. die mit ihr verbundene syrische Kurdenmiliz DYP in Kobani ausgerechnet mit Hilfe der türkischen Armee aufgerüstet werden.

Während man sich in Europa über diese Haltung empört, haben die USA – die einzige Macht, die außer der Türkei noch etwas tun könnte – Kobani offenbar ebenfalls aufgegeben. Verteidigungsminister Chuck Hagel betonte am Samstag zwar, die Situation dort sei gefährlich und man werde IS weiter aus der Luft angreifen. Darüber hinaus aber ist keine Rettungsaktion geplant. US-Außenminister John Kerry sprach nach einem Treffen mit seinem britischen Kollegen Philip Hammond aus, was Obama und seine Militärs denken: Trotz aller schrecklichen Bilder müsse man verstehen, dass die Stadt an der türkischen Grenze strategisch nicht so wichtig sei.

Wichtiger ist, Ankara überhaupt für eine aktivere Rolle im Kampf gegen IS zu gewinnen. Damit sei man in den letzten Tagen weitergekommen. Die Türkei, so Hagel, sei jetzt bereit, syrische Oppositionelle von der Freien Syrische Armee (FSA) auszubilden und zu bewaffnen, die man als Bodentruppen in Syrien einsetzen kann. Das aber soll weit westlich der bedrohten Stadt, an der Grenze zur türkischen Provinz Hatay passieren, wo die FSA noch einige Gebiete auf der syrischen Seite kontrolliert.

In diesen Gebieten plant Präsident Erdogan auch eine seiner Schutzzonen einzurichten, wohin syrische Flüchtlinge zurückgebracht werden können. Ob die dann dort ausgebildeten und bewaffneten FSA-Kämpfer sich später tatsächlich gegen den IS in Stellung bringen lassen, ist aber noch sehr fraglich. Einer ihrer Sprecher erklärte kürzlich, was auch die türkische Regierung denkt: der Kampf gegen IS nützt nur dem Regime Assad, und einzig der zählt. Auch aus dieser Sicht sind die Stadt Kobani und die dort verbliebenen Menschen nicht von Bedeutung.