BARBARA DRIBBUSCH über GERÜCHTE
: Abgeschirmte Ufer

Spielen unsere Jungs zu viel „World of Warcraft“? Vielleicht. Aber ein Havelspaziergang ist auch nicht authentischer

Dreieinhalb Stunden pro Tag. So lange sitzen junge Nutzer von virtuellen Rollenspielen durchschnittlich vorm Schirm. Täglich. Ich hab’s erst neulich gelesen. „Johannes hockte in den vergangenen Wochen mindestens vier Stunden täglich vor der Kiste“ seufzt Britt, „World of Warcraft. Suchtdroge Nummer eins.“

Wir spazieren die Havel entlang. Es ist regnerisch. Britt hat ihre grüne Wachsjacke übergezogen und sieht ein bisschen aus wie die Queen, die im gleichnamigen Film durch die schottische Landschaft stapft.

Ich habe diese wasserdichten Försterstiefel an, die untenrum mit dicker Sohle und einem hohen Rand aus Gummi versehen sind. Irgendwie kommt man mit den Jahren auf den Naturtrip.

„Die Sauerei dabei ist, dass du erst aufsteigst in höhere Level, wenn du viele Stunden am Schirm verbracht hast“, klagt Britt, „ich frage mich, was Johannes eigentlich noch an authentischem Leben hat.“ Ja, das Authentische.

Mir fällt auf, wie intensiv die Erde heute riecht. In Romanen würde es jetzt heißen: „die Erde dampfte nach dem Regen“ oder so was. Allerdings stinkt es auch ein bisschen. Nach Moder.

„Sag mal, lagern die hier eigentlich irgendwo Müll?“, frage ich Britt. „Auf keinen Fall“, meint Britt, „das ist doch Landschaftsschutzgebiet.“ Stimmt. Deswegen haben sie im Wasser auch überall Pfahlreihen vor das Schilfrohr gesetzt. Zum Schutz der Pflanzen. Schade eigentlich. Macht das Havelufer irgendwie optisch kaputt.

„Die Landschaften bei ‚World of Warcraft‘ sind schon große Klasse“, gebe ich zu bedenken, „wie Traumbilder. Tolles Licht.“ Mein Sohn David hat mir „WoW“ erklärt.

Begleitet von elegischer Klarinettenmusik glitt ich in Gestalt eines süßen kleinen Gnomes mit abstehenden Ohren durch verschneite Winterlandschaften und hüpfte durch Wälder mit knorrigen Bäumen. Hier gibt es keine hässlichen Landschaftsschutzmaßnahmen, keine unangenehmen Gerüche. Es hat mich schon ergriffen.

„Wir haben doch als Kinder früher auch den ganzen Tag gelesen, uns in fremde Welten versetzt. Vielleicht war das gar nicht so ein Unterschied zu heute“, sage ich.

In meiner Kindheit stritten Eltern darum, ob „Fix und Foxi“-Comics die Sprache verderben, Karl May ein größenwahnsinniges Heldenbild abgebe oder Enid Blyton zu wirklichkeitsfremd sei.

„Aber das Geballere“, sagt Britt, „in diesen Spielen muss immer jemand getötet werden. Es geht um Siegen, um Mächtigsein“. Wir sind jetzt fast am Kuhhorn angekommen, einer kleinen Bucht. Außer uns ist niemand an diesem Dienstagnachmittag unterwegs. Der Matsch hier ist auch wirklich nur was für Hartgesottene.

„Das Geballere ist doch nur ein Teil“, meine ich, „für die Jungs stellt sich das Ganze vielleicht eher als eine Art Entwicklungsroman dar. Eine Quest nach der anderen, du steigst immer ein paar Level auf und trittst in Gilden ein. Außerdem trifft David bei ‚WoW‘ immer Kumpels, die auch gerade online sind und in Form von Kobolden oder Zauberern durch das Bild hüpfen.“

Eigentlich wollte ich das Spiel nicht verteidigen. Aber David hat mir erzählt, er gucke weniger Fernsehen, seitdem er „WoW“ spiele. Vielleicht ist Bildschirm doch nicht gleich Bildschirm.

Wir sind jetzt schon über eine Stunde unterwegs, ab dieser Dauer gilt ein Spaziergang bei mir als Wanderung. Die Vögel singen, obwohl es noch so früh ist im Jahr. Der Himmel bleibt verhangen.

Ich ziehe meinen CD-Spieler raus. Die CD „Vogelstimmen-Trainer“ hatte ich bereits zu Hause eingelegt. Ein Weihnachtsgeschenk. Man erfährt, welcher Vogel wie klingt.

Amseln, Spatzen und Kohlmeisenstimmen kann ich schon zuordnen. „Zi-zi-bee“, das sind die Kohlmeisen. Es hat was, Vogelstimmen unterscheiden zu können wie Musikinstrumente in einem Orchester.

„So ein Onlinespiel mit Naturthemen, das könnte spannend sein“, sage ich, „wäre doch eine geniale Geschäftsidee.“ „Stimmt“, findet Britt. Endlich sind wir einer Meinung.

BARBARA DRIBBUSCH

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