: Protest ist nicht genug
AUS SEELZE, HAMBURG UND BERLIN HEIKE HAARHOFF (TEXT UND FOTOS)
Anrufe bei Monika, Basti und Sascha im Frühling 2007, sechs Jahre nach Genua. „Natürlich erinnere ich mich“, ruft Monika, „sowas vergisst man doch nicht. In Genua dachte ich, jetzt stehen wir kurz vor der Revolte.“ Sie lacht.
Basti hat neuerdings ein Handy, vielleicht ist die Stimme bloß verzerrt, jedenfalls klingt sie reif. „Eineinhalb Jahre vor Genua, im Dezember 1999“, sagt er, „hatte es diese unglaubliche Demo in Seattle gegen die WTO gegeben. Seitdem wussten wir in der deutschen Linken, so etwas ist auch in Europa möglich, und 2001 war es so weit.“
Sascha ist sofort Feuer und Flamme, na klar, am besten treffe man sich persönlich. „Das Tolle an Genua war“, sagt er, „dass wir nach Hause kamen, und viele, die uns vorher für verrückte Weltverbesserer gehalten hatten, uns anerkennend auf die Schulter klopften. Es schien, als baue sich eine Bewegung auf.“
Die drei sind nicht zufällig ausgewählt: Sommer 2001. Genua, Weltwirtschaftsgipfel der sieben mächtigsten Industrienationen und Russlands. 27 Stunden hatten die drei Berliner Studenten mit der taz-Reporterin im Bus nach Süden gesessen. Monika, damals 22 Jahre alt, Basti, 24 Jahre, und Sascha, 28 Jahre, wollten mit 300.000 weiteren Menschen in der italienischen Hafenstadt auf die Straße zu gehen. Es war der Durchbruch für die globalisierungskritische Bewegung und ihr Netzwerk Attac; konservative Kreise fragten besorgt, ob eine neue außerparlamentarische Opposition drohe. Die bislang größte europäische Demonstration gegen die Politik der G-8-Staaten war zugleich eine der brutalsten, die erste mit einem Toten: Ein 20-jähriger Carabiniere erschoss in Genua den 23-jährigen Studenten Carlo Giuliani.
Und heute? Wenige Wochen vor Heiligendamm? Glaubt man den Wortführern der globalisierungskritischen Bewegung, dann wird von den Protesten gegen den Weltwirtschaftsgipfel Anfang Juni an der deutschen Ostseeküste eine ähnliche Wirkung ausgehen wie 2001 von den Massendemonstrationen in Genua: ein neuer Schub, ein Aufrütteln, ein Umdenken über Fragen sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit weltweit.
Darüber soll mit denen gesprochen werden, die schon 2001 dabei waren. Was ist aus ihrem Engagement und ihren Idealen geworden? Wie leben die heute 28-, 30- und 34-Jährigen? Werden sie in Heiligendamm dabei sein? Monika, Basti und Sascha wohnen mittlerweile in unterschiedlichen Städten, deshalb kann man sie nur einzeln treffen. Alle drei sagen zu. Sofort.
Seelze, Ortsteil Letter, eine Kleinstadt bei Hannover. Bescheidene Reihenhäuser, gepflegte Mietblöcke, das VW-Werk ist einen Katzensprung entfernt. Dort steht im Schichtbetrieb der Mann am Band, den Monika voriges Jahr geheiratet hat, sie heißt jetzt Hirschfeld, und es ist kein Problem mehr, dass ihr Nachname in der Zeitung steht. Die Zeit der Angst, dass irgendein Polizist sie hindern könnte, zu einer Demonstration zu kommen, wenn er ihren Namen läse, ist vorbei. Heute weiß sie: Die Polizei findet, wenn sie will, mit ganz anderen Mitteln heraus, wer sie ist.
Monika Hirschfeld ist eine erwachsene Frau, sie ist 28 Jahre alt, in wenigen Tagen wird sie ihr erstes Kind zur Welt bringen. Deswegen wird sie nicht nach Heiligendamm fahren, sondern ihren Mann schicken. Von Genua kann sie noch immer detailreich berichten: Wie sie, Basti und Sascha über Stunden in brütender Hitze von der italienischen Polizei eingekesselt wurden, wie Einwohner ihnen nach Tränengasattacken Wasser reichten, wie zehntausende fremde Menschen auf der Straße einander ein Gefühl der Stärke gaben. Solche Erfahrungen prägen. Politisieren müssen sie nicht. Revolte, Fieber, Weltverbesserertum, Anerkennung – ihr Antrieb damals war zum einen typisch für 20- bis 30-Jährige und zum anderen von der Sorte, die verpuffen kann.
Umso bemerkenswerter ist: Monika, Sascha und auch Basti sind nach Genua in politische Bündnisse eingestiegen und bis heute aktiv. Sie halten den Kontakt zueinander, obwohl sie privat wie beruflich unterschiedliche Wege gegangen sind. Monika Hirschfeld sagt: „Natürlich war Genua wichtig. Aber ich wäre auch sonst politisch aktiv geworden in jenem Jahr – spätestens beim Afghanistankrieg.“ So aber trat sie bereits im Oktober 2001 dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac bei, dem, wie sie sagt, „damaligen Kristallisationspunkt der Bewegung“, sie, eine verträumte Geschichtsstudentin mit rot gefärbten Haaren aus dem niedersächsischen Peine.
Geboren wurde sie 1978 in Warschau, nach Deutschland kam sie 1990. Ihre Eltern verbanden mit der Bundesrepublik die Hoffnung auf Wohlstand und Meinungsfreiheit, nicht aber den politischen Aktivismus ihrer Tochter. „Sie waren anfangs überhaupt nicht einverstanden mit dem, was ich sagte. Wenn ich prophezeite, dass viele Menschen in Deutschland wegen der Globalisierung und der Sozialkürzungen ihren Job verlieren würden, lachten sie mich aus.“
Monika Hirschfeld machte eigene Erfahrungen. In den USA jobbte sie vorübergehend als Dienst- und Kindermädchen, wurde fristlos entlassen, weil sie ihre Meinung gesagt hatte. „Die Gesellschaft dort“, stellte sie fest, „ist einzig in Verlierer und Gewinner aufgeteilt.“ Sie kehrte nach Deutschland zurück, sie ging wieder auf die Straße, gegen die Sozialreformen, gegen Hartz IV, zusammen mit Sascha und Basti. Ihr Studium hat sie noch nicht abgeschlossen.
„Wir“, sagt sie, „haben dann gemerkt, dass die Fragestellungen komplizierter sind, dass man, um etwas durchzusetzen, nicht nur die Straße, sondern auch eine parlamentarische Alternative braucht.“ Als 2005 die WASG gegründet wurde, waren Monika, Basti und Sascha dabei. Parteiarbeit, zumal in der niedersächsischen Kleinstadt, erzählt sie, sei zäh und bringe nicht den Kick der Straße. Aber: „Ich habe einen längeren Atem bekommen.“
Hamburg-Altona, Elbstrand. Auf dem Fluss sucht ein Containerriese seinen Weg in den Hafen. Dort wird die Ware aus Übersee gelöscht. Es ist ein schöner Ort, um über die Globalisierung zu reden und das, was sie aus Menschen macht, die sich mit ihr auseinandersetzen. Sebastian Zehetmair, Rufname immer noch Basti, lebt noch nicht sehr lange hier. Er hat dieses Jahr sein Geschichtsstudium in Berlin beendet, er ist 30 Jahre alt, jetzt jobbt er für eine Naturschutzorganisation, bis zu zwölf Stunden täglich steht er am Infostand.
Es ist keine Arbeit für die Ewigkeit, das sagt er gleich. Wissenschaftler wäre sein Ding, er würde dazu in seine Heimatstadt München oder an jeden anderen Ort ziehen. Doch die Stellen sind rar, die Beschäftigungsverhältnisse prekär. Umso wichtiger ist ihm Kontinuität in seiner politischen Arbeit und im Kontakt zu Menschen wie Monika und Sascha, mit denen er in Genua Grenzwertiges durchlebt hat: „Es gibt zwischen uns ein Vertrauensverhältnis, das über Jahre gewachsen ist.“
„Wir“, sagt Basti Zehetmair, „wurden nach Genua oft mit den 68ern verglichen, es wurde gefragt, wie lange unser politisches Engagement wohl anhalten würde.“ Er kann über solche Fragen lachen, aber das Lachen klingt böse: „Die Situation heute ist anders als 68: Der Rückzug ins Private ist schwieriger geworden.“ Er könnte auch sagen: Es bleibt einem gar nichts anderes übrig, als politisch zu bleiben. Der sichere Job, das Reihenhäuschen und die Ehe auf Lebenszeit – wenn Sebastian Zehetmair die Sicherheitslügen seiner Kindheit aufzählt, klingt es wie im Märchen.
Er will sie nicht zurückhaben, die alte Zeit, aber er verlangt Antworten darauf, was werden soll aus einem Land, dessen Bürger sich immer weniger von der herrschenden politischen Klasse vertreten fühlen. Agenda 2010, Gesundheitsreform, Rente mit 67, Tornado-Einsatz – „immer wieder hat das Parlament Entscheidungen gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung getroffen“, sagt er. „Die Krise der politischen Repräsentanz“ nennt er das. Sie ist sein Antrieb, sich zu engagieren.
Die Frage ist nicht, ob er nach Heiligendamm fahren wird, sondern, für wie lange. Denn der Protest auf der Straße, das sieht Basti genauso wie Monika, ist eine Sache. Eine andere ist, was daraus folgt: „Es muss auch eine Stimme geben, die die Stimmung der Bevölkerung ins Parlament trägt.“ Der WASG, zu deren Basis er jetzt gehört, traut er das zu. Nicht aber Attac, der Organisation, die ihn nach Genua in den Bann gezogen hatte, und der er vor drei Jahren den Rücken gekehrt hat: „Bei Attac gab es diesen tollen internationalen Blick und eine große Offenheit.“ Aber wie eine parlamentarische Alternative aussehen könnte, wurde ihm anderswo beantwortet.
Berlin, ein Café am Potsdamer Platz. Sascha Kimpel, 34, macht Mittagspause, er trägt die Haare wie vor sechs Jahren, blond und geföhnt. Er hat Basti seit Wochen nicht gesehen, aber er kann nahtlos anknüpfen. Auch Sascha Kimpel ist weg von Attac – wegen der WASG. Derzeit sucht er nach denjenigen Mitgliedern an der zerstrittenen Berliner Basis, die für eine Fusion mit der PDS sind. Es klingt mühselig. „Ich mache das nur, weil ich irgendwann mal festgelegt habe, dass ich den Kapitalismus weltweit so nicht akzeptieren kann“, sagt Sascha Kimpel und lacht wie über sich selbst.
Er sei nicht im Streit geschieden von Attac. Aber: „Sozialproteste allein führen nicht zu Veränderungen. Die Partei kann verstärken, was wir auf der Straße machen. Es gibt eine festere Struktur. Wenn die Bewegung mal in der Flaute ist, gibt es noch ein parlamentarisches Sprachrohr.“
Und darüber hinaus, jedenfalls glaubt das Sascha Kimpel, könne eine Partei unterschiedlichere Menschen einbinden: „Attac“, sagt er, „ist eine Organisation für Menschen mit Hochschulabschluss.“ Seine Kollegen beispielsweise könnten mit diesem Namen nichts anfangen. Sascha Kimpel, der diplomierte Politikwissenschaftler, verkauft seit Jahren DSL – freiberuflich und mangels Alternative. Seine Lebensgefährtin ist ebenfalls selbstständig, sie leitet ein Fitnessstudio. Sascha hat Einblicke in Lebenswelten, die von Sozialabbau und Globalisierung direkt betroffen sind. Er weiß nicht, wie viele dieser Betroffenen sich so wie er aufmachen werden nach Heiligendamm. „Aber Gysi und Lafontaine, die kennen sie.“
Es gibt ihm die Überzeugung, dass das, was er, Basti und Monika machen, jedenfalls nicht überflüssig sei.