„Bis heute ein Tabu“

VORTRAG Über die Verstrickungen der Bremer Kaufleute im Ersten und Zweiten Weltkrieg

■ 77, war Professor für Weiterbildung und veranstaltet die Reihe „Dämmerstunde – über Vergessenes und Verdrängtes“.

taz: Herr Wollenberg, welche Rolle spielte die Bremer Kaufmannschaft in den beiden Weltkriegen?

Jörg Wollenberg: Die Bremer Kaufleute standen vor dem Problem, dass die Kolonien spätestens durch den Kriegseintritt der Amerikaner 1917 verloren waren. Sie entdeckten den Osten als neuen „Lebensraum“ und nutzten den deutschen Feldzug, um ihre Vision eines „Mitteleuropa-Projektes“ durchzusetzen. 1915 formulierte Ludwig Roselius als Kriegsziel, den „Lebensraum im Osten“ durch die Einverleibung Russlands ins „Großdeutsche Reich“ zu vergrößern: ein Europa unter deutscher Herrschaft, das von Belgien bis zu den Dardanellen am Mittelmeer reichen solle. Und die Ukraine galt es als Kornkammer Deutschlands zu erobern, was im Zweiten Weltkrieg erneut versucht wurde – wovon meine eigene Geschichte betroffen ist.

Sie waren damals in der Ukraine?

Ich sollte 1943 in der Ukraine eingeschult werden, wo mein Vater als Sonderführer tätig war, um die Versorgung der deutschen Bevölkerung und des Heeres zu organisieren. Dafür standen ihm eine Villa und zahlreiche Zwangsarbeiter zur Verfügung. Ohne den Sieg der Roten Armee in Stalingrad wäre ich in der Ukraine groß geworden.

Welche Bremer waren neben Roselius an der Kriegstreiberei beteiligt?

Unter anderem Wilhelm Biedermann, einstiger Präses der Bremer Handelskammer, die Bremer Tabakfirmen sowie die Bremer Baumwoll AG waren dabei, die neue Vision zu realisieren und wurden wie der Hamburger Reemtsma-Konzern auf der Krim aktiv – so vor allem im Zweiten Weltkrieg.

Wie gut wurde dieser Teil der Bremer Geschichte aufgearbeitet?

Bis heute besteht aus Sicht der Kaufmannschaft ein Tabu. Es gibt immer wieder den Versuch, ihn abzuwehren. Roselius bleibt der heilige „König Ludwig“, der die Böttcherstraße gebaut hat. Er bleibt unangetastet einer der großen Bremer. Seine großdeutschen Visionen und NS-Verstrickungen werden weitgehend verdrängt.  INTERVIEW: JPB

Vortrag um 17 Uhr, Gewerkschaftshaus, Bahnhofsplatz 22, zusammen mit Karl Heinz Roth