Die Büchse der Pandora

DAILY DOPE (679) Dass der Deutsche Olympische Sport-Bund die Causa Pechstein verlängert, passt zu diesem an Merkwürdigkeiten reichen Fall

Der Wettstreit der Gutachter geht in eine neue Runde, nachdem der Deutsche Olympische Sport-Bund (DOSB) jetzt bekanntgegeben hat, dass in der Causa Claudia Pechstein „fünf Fachleute medizinische Fragen beurteilen sollen“. Es wird also fünf neue Gutachten geben, dabei haben doch bereits die Experten Moran, Kuipers und Stray-Gundersen, Sottas, Damsgaard und Sörgel Berge von Papier angehäuft. Und auch deren Kollegen Schmidt, Frank und Ashenden, Pöttgen, Franke und Schänzer, Jelkmann, Steinacker, Braumann und Pagel, Zanella, D’Onofrio, Hoyer, Eber, Heimpel und Ehninger, Ganser, Weimann und Gassmann, Schrezenmeier, Tichelli, Veermann, Kohne und Thomas sowie Waller waren nicht gerade faul. Fast scheint es, dass jeder Mediziner, der auf dem Gebiet der Hämatologie arbeitet, an Pechsteins Blutbild, insbesondere ihren Retikulozyten, herumdoktert.

Diese jungen Blutkörperchen waren ja unnatürlich erhöht, weswegen der Internationale Sportgerichtshof CAS als letzte Instanz ein Urteil gegen die Eisschnellläuferin gefällt hat – mit der Conclusio: Die Athletin hat gedopt. Pechstein will das bis heute nicht hinnehmen. Möglicherweise leidet sie an einer angeborenen Veränderung des Blutbildes, einer sogenannten Sphärozytose. Der DOSB unterstützt die 42-Jährige in der Kampagne für ihre Reinwaschung, spricht von „großen Fragezeichen“. Möglicherweise sei Pechstein nicht Täterin, sondern Justizopfer. Das Vorgehen des DOSB ist erstaunlich und singulär in der Geschichte des deutschen Sports. Man könnte annehmen, der Verband traut seinen eigenen Gerichten nicht – und öffnet deswegen die Büchse der Pandora mit dieser postjuristischen Begutachtung. Das alles sei ein „völlig offener Prozess“, heißt es von DOSB-Seite, die Mediziner „sollen uns einen Rat geben, sie fällen keinesfalls ein Urteil“. Aber wie will man dann mit dem „Rat“ umgehen? Das dürfte klar sein: Es geht um die Exkulpierung einer Olympionikin und die finale Beeinflussung der Öffentlichkeit. Die Experten, die laut DOSB „über jeden Zweifel erhaben“ sind, dürften mehrheitlich ein Urteil im Sinne von Pechstein fällen. Warum sonst sollte der DOSB noch einmal in der Sache aktiv werden.

Die Koordination der Fünfer-Gruppe hat Wolfgang Jelkmann inne, Direktor des Instituts für Physiologie an der Uni Lübeck; er hat schon 2009 ausgeführt, die Daten sprächen gegen Blutdoping. Mathias Freund, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie (DGHO), wird sich wohl seinen DGHO-Kollegen anschließen und pro Pechstein argumentieren. Auch Wolfgang Schänzer, Leiter des Instituts für Biochemie an der Sporthochschule Köln, hat seine Zweifel an der Verurteilung geäußert: „Der Grundsatz, im Zweifel für die Angeklagte zu entscheiden, ist verletzt worden.“ Bleiben noch Else Heidemann, Spezialistin für Hämatologie aus Stuttgart, und Alberto Zanella aus Mailand. Claudia Pechstein weiß übrigens heute schon, wie die Sache ausgeht: „Ich kenne die Antwort längst!“ MARKUS VÖLKER