Im Erinnerungsgenerator

Schnappschüsse von Pogo-tanzenden Jünglingen und strenge Ansichten einer menschenleeren Stadt: Die Ausstellung „Kein Kiel“ dokumentiert, wie Punk ebendort gelebt wurde, und vermeidet dabei die gängigen Methoden, das Jugendphänomen auch Erwachsenen erklärbar zu machen

Nirgendwo prangt hier ein Zitat von Diedrich Diederichsen oder verwandten Deutern

von FRANK KEIL

Gut dreißig Jahre ist es her, als in die Kleinstadt zurückkehrende junge Menschen laut ausriefen: Ey, da draußen in der Welt ist Punk das große Ding! Und sie zeigten zerrissene T-Shirts, enge, kunstvoll zerschlissene Hosen sowie mit Nieten dicht besetzte und um den Hals geschnallte Hundehalsbänder vor und unter dem Arm trugen sie Langspielplatten, meist aus England, auf denen schneller, barscher und weitgehend unmelodiöser Krach zu hören war, wozu sie wie auf Kommando Bier in die Luft schleuderten, während sie zuckend in die Höhe sprangen.

So geschah es in Lübeck und Stade, ebenso wie in Bremen, in Oldenburg und Osnabrück und auch in Kiel. Damals entstanden dort in den Übungsräumen stillgelegter Großbunker entlang der Kieler Förde im Handumdrehen diverse Bands, die so bedeutungsschwangere Namen wie „No Horizon“, „Inzucht und Ordnung“ oder auch „Fun Funeral“ trugen. Keine von ihnen wurde über die Schleswig-Holsteiner Szene hinaus wichtig, mit einer Ausnahme: Die von Anfang an mehr am New Wave denn am Hardcore-Punk orientierte und daher mit einem Keyboard (!) antretende Kieler Formation „No More“ landete 1981 mit „Suicide Commando“ einen internationalen Hit, der bis heute regelmäßig in einschlägigen Clubs aufgelegt wird.

Zu hören ist das Stück in der originalen Fassung auf einer Wiederaufnahme des Kiel-Samplers „Kein Kiel 1977–1982“, damals jeweils mühsam auf Kassette kopiert, heute natürlich auf CD gepresst und zugleich Beitrag zu einer gleichnamigen Ausstellung in der Kieler Kunsthalle.

Kuratiert wurde diese Schau von den ortsansässigen Musikkennern und „No More“-Erben Kerstin Schwarz und Andreas Schwarz, die ihren Rückblick auf die wilden Kieler Jahre neben schlichtesten Konzertplakaten und ebensolchen Fanzines mit Dokumentarfotos Helmut Kundes untermauern. Kunde wohnte damals diversen Punkkonzerten bei, sei es in der Hansastraße 48, im besetzten Sophienhof (heute ein mehrstöckiges Einkaufszentrum) bis hin zur Lokalität „Schweinestall“ im Dörfchen Langwedel, wo auch ein gewisser Daniel Richter das spärliche Mobiliar gerade gerückt haben soll.

„Es war nicht die Zeit, wo man sich gerne beobachten ließ, aber ich habe einfach draufgehalten“, erklärt Kunde seine schnörkellosen und angenehm direkten Bilder: „Ich war in diese Szene einfach verliebt; zum Glück kannte ich ein paar Punks, die mich trotz meiner langen Haare mitgenommen haben.“

Kontrastiert werden Kundes parteiliche Schnappschüsse von Pogo-tanzenden Jünglingen klugerweise mit den strengen und meist menschenleeren Stadtansichten Joachim Thodes aus seinen Serien „Kieler Situationen“ und „Kieler Bunker“. Thode war in jenen Tagen als Theaterfotograf von Hamburg aus in die Stadt gekommen, dabei politisch geschult an den Auseinandersetzungen um die Umstrukturierung des bis eben unspektakulären Arbeiterviertels St. Georg hin zu einem aufstrebenden Areal für die Besserverdienenden. Ästhetisch verband Thode rein nichts mit dem Punk, doch trieb ihn ein verwandtes Empfinden vom bleiernen Stillstand der späten 70er Jahre nach dem hoffnungsvollen Aufbruch zehn Jahre zuvor durch die Kieler Straßen.

Es prägt die Ausstellung folglich jener Moment des stummen Entsetzens über das Versiegen der noch eben vorpreschenden 68er wie auch das Erstaunen über das brachiale und zuweilen ungelenke Aufbegehren gegen die zähe bundesrepublikanischer Normalität im Schatten des Deutschen Herbstes. Nirgendwo prangt hier ein Zitat von Poptheoretiker Diedrich Diederichsen oder verwandten Deutern, die später den kurzen Sommer des Punks und sein baldiges Erstarren in immer gleiche Rhythmen und Ritualen eben auch zu mildern suchten.

Ebenso verzichtet die Schau konsequent auf jegliche volkskundlich-soziologischen Einordnungen, die sich gerade mit dem Entstehens des Punk etabliert hat. Jenes Interesse, die oft staunende Erwachsenenszene mit dem sich ständig wechselnden Vokabular der so genannten Jugendkulturen vertraut zu machen, um sie so zugleich mit dem Verweis auf geschichtliche Vorläufer immer wieder aufs Neue zu beruhigen: Mag sich der junge Mensch auch gerade recht wild gebärden, so neu ist das gar nicht.

Und so funktioniert „Kein Kiel“ wie ein Erinnerungsgenerator: Die Ausstellung lädtein zu einer Zeitreise für die heute 40- bis 50-Jährigen, denen auf ewig warm ums Herz wird, wenn Namen wie „Hans-A-plast“ oder „Male“ oder eben die der lokalen Helden fallen, die sich für kurze Zeit als die Akteure der wiedergewonnenen Rebellion empfanden. Ganz egal, dass das nun schon so lange her ist und nur sie sich noch genau daran erinnern.

„Kein Kiel. Post-Punk & No Wave – Kieler Musikszene 1977–1982“, bis 3. 6. , Kunsthalle Kiel. Dazu ist ein gleichnamiger Katalog plus CD-Compilation für 9,90 Euro vor Ort erhältlich