Die Verführung Gottes

Kurz vor seinem Tod besprach Jean Baudrillard auf Deutsch eine Audio-CD. Hier, zum ersten Mal transkribiert, ein zentraler Abschnitt daraus

Es war eines der wichtigen Themen, auf die der am Dienstag verstorbene französische Philosoph Jean Baudrillard immer wieder gern zurückkam. Worin liegt die Macht der Verführung? Schon der Begriff ist bei Baudrillard eine scharfe Entgegensetzung zur Liebe, die es gewiss gibt, aber das ist eben auch schon alles. Man liebt seine Mutter, die Natur, eine Frau, kleine Vögel, da bleibt Baudrillard eher skeptisch. In einer Welt als Simulation aber, in der es kein Festhalten an der Wirklichkeit gibt, vermag der Mensch selbst Zeichen zu produzieren, um mit ihnen zu verführen. Mit der Verführung lassen sich die Wahrheit und die Kräfte der Produktion unterlaufen, „sie erledigt, parodiert den Sinn und lockt uns ins Spiel“, wie es in dem 1983 im Merve-Verlag erschienenen Essay „Laßt euch nicht verführen!“ heißt. Für eine Audio-CD hat Baudrillard diese Überlegungen im vergangenen Herbst weiterentwickelt – was frei auf Deutsch vorgetragen angenehm samtig klingt. Es ist schön, dem Philosophen ein letztes Mal dabei zuzuhören, wie er sich brüchig in der ungewohnten Sprache vorwärts tastet. Der folgende Abschnitt ist der „Verführung Gottes“ gewidmet. hf

Wenn wir auf die alten Kulturen zurückkommen, dann war das Verhältnis zu den Göttern ein Opferverhältnis. Das Opfern ist ja ein Verführungsversuch, denn natürlich muss man den Göttern gefallen, sonst werden sie sich rächen. Das ist ein Duell – und die Götter antworten oder sie antworten nicht. Wenn sie aber nicht antworteten, dann war es aus mit ihnen in diesen Kulturen, denn die Götter hatten keine ewige Stellung, es war ein fortwährendes Spiel von Opfern und Vergelten.

Dieses Verhältnis zum Opfer hat sich verloren mit der Zeit. Wir kennen das Opfer nur noch im grausamen Sinne, es ist kein wechselseitiges Spiel mehr. Es fehlt der Potlatsch, das „ich gebe“ und das „du gibst mir zurück“. Diese Gabe, die eine Herausforderung ist, immer mehr zu geben.

Tatsächlich ist die Verführung Gottes immer auch mit einer Herausforderung verbunden gewesen. Erst mit den großen monotheistischen Religionen kommt man nicht mehr auf Opfer, sondern nur noch auf Glauben. Das kann am Anfang zwar ein Glaube im tiefsten Sinne sein, der dann aber allmählich schwächer und schwächer wird. Glaube ist sowieso ein „schwacher Wert“, das hat Nietzsche schon gesagt. Also wenn man an Gott glaubt, dann ist das ein Zeichen, dass man an dessen Existenz glaubt. Aber es ist eben eine schwache Stellung, eine Reduzierung, auch eine Herabstellung von Gott und den Göttern, die zuvor erhabene Macht hatten, während der Glaube nur danach strebt, sich von der Existenz Gottes zu überzeugen. Das ist nicht sublim, das ist menschlich, allzumenschlich, würde Nietzsche wieder sagen. Wenn Gott wirklich da ist, wenn die Götter wirklich da sind, mitten im Leben, dann braucht man nicht mehr an sie zu glauben. Dann ist der Glaube überflüssig. Das gilt nicht nur für Gott allein, sondern auch für die Ideen usw., das sind überhaupt moderne, aber schwache Themen.

„La croyence“, auf Französisch, ist eine abgeschwächte Form von Glauben, nicht mehr dieser lutherische Glaube, sondern fast schon Superstition, ein Aberglaube. Vom Opfer an schwächt sich das Verhältnis zu Gott und den Göttern ab, und dann bleibt nur das Motto: Gott ist tot. Wobei der Tod Gottes nicht bedeutet, dass die Idee von Gott verschwunden ist. Vielleicht haben wir es nur mit den Überbleibseln, dem Kadaver, also mit der Leiche Gottes zu tun. Das ist noch schlimmer, da gibt es keine Verführung, nur eine Faszination, aber es ist die Faszination der Leiche. JEAN BAUDRILLARD

Der Text ist die leicht gekürzte und überarbeitete Transkription aus einem Vortrag, der unter dem Titel „Jean Baudrillard: Die Macht der Verführung“ als Audio-CD bei supposé erschienen ist. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.