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: Das Riesenarschloch

Juliet Macur: „Lance Armstrong. Wie der erfolgreichste Radprofi aller Zeiten die Welt betrog“. Edel-Verlag, Hamburg, 22,95 Euro

Lance Armstrong fuhr nie allein. Im Windschatten folgte ihm stets ein düsterer Begleiter, der ihn vor sich hertrieb und ihn verbotene Dinge tun ließ. Der Texaner, der wie besessen kurbelte und es meisterhaft verstand, andere in sein opulentes System des Betrugs hineinzuziehen, Menschen und Medien zu manipulieren, führte einen beständigen Kampf gegen einen Dämon. Los wurde er ihn nie. Juliet Macur, Journalistin der New York Times, versucht in ihrem über 400 Seiten starken Buch „Lance Armstrong – Wie der erfolgreichste Radprofi aller Zeiten die Welt betrog“ nachzuzeichnen, wie aus Lance Armstrong, dem jungen ambitionierten Triathleten, jener Lance Armstrong werden konnte, der zum vielleicht größten Finsterling der Sportgeschichte aufstieg.

Die Autorin hat die wohl umfangreichste Recherche zum Fall Armstrong betrieben, so ziemlich alle wichtigen Zeugen und Begleiter besucht, Akten der US-Dopingbehörde Usada studiert und Tonbänder eines Armstrong-Begleiters aus frühen Tagen abgehört. Wie man es auch dreht und wendet: Der Superradler, der sieben Mal mit dem Gelben Trikot in Paris einfuhr, erscheint in ihrer Darstellung als ein Soziopath mit den typischen Eigenschaften eines charakterlich degenerierten Athleten. Er ist charismatisch – und extrem nachtragend. Er vermag Menschen zu überzeugen, nur um sie im nächsten Moment wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen. Er teilt die Welt in Gut und Böse. Wer einmal nicht nach seiner Pfeife tanzt, wird zum Ausgestoßenen und Verfemten, ja, Armstrong trachtet danach, ihn zu „vernichten“, seine berufliche Existenz zu zerstören.

Macur leuchtet auch die Kindheit von Armstrong aus. Lange hielt sich die Legende, Armstrong sei allein von seiner Mutter Linda Armstrong Kelly (geb. Mooneyham) aufgezogen worden. Sie stellte das in ihrer Autobiografie „No Mountain High Enough: Raising Lance, Raising Me“ so dar, dabei gab es einen Adoptivvater, Terry Armstrong, der aber ebenso aus der Erinnerung getilgt wurde wie Lance Armstrongs leiblicher Vater Eddie Gunderson, der sehr früh den Kontakt zum Sohn verlor. Macur erzählt die an Brüchen reiche Familiengeschichte im Stil eines Groschenromans. Schon früh beherrschen Lüge, Unaufrichtigkeit und Verdrängung das Familienleben. In diesem Umfeld gedeiht Armstrongs Ehrgeiz, der sich zu einer Art „Kampfbereitschaft“ und Daueraggression auswächst. Als Junior soll er einem Konkurrenten einmal zugeraunt haben: „Ich bring dich um, du bist ein Jammerlappen.“

Mit absoluter Konsequenz betreibt Armstrong auch sein Doping. Doch trotz aller Verdachtsmomente feiern ihn die US-Medien, nicht zuletzt nach seiner überstandenen Krebserkrankung, als Sporthelden. Macur dokumentiert die Huldigungen der US-Presse, was amüsant zu lesen ist. Die Presseagentur AP erklärte etwa, Armstrong sei das Opfer einer „Hexenjagd“. Eine von Armstrongs größten Gegenspielerinnen, Betsy Andreu, Frau des Profiradlers Frankie Andreu, hat die Vernarrtheit der Amerikaner in Armstrong auf den Punkt gebracht: „Amerika möchte das Märchen von Lance glauben. Amerika möchte, dass er dieser großartige Kerl ist, ein Held, aber ich weiß, was er wirklich ist. Er ist nur ein Betrüger.“ Wahr ist freilich auch, dass Armstrong ein begnadeter Rennfahrer und ein noch besserer Wettkämpfer war. Doch mit religiösem Feuereifer, der bald auch andere erfasst, versucht Betsy Andreu, Armstrong zu Fall zu bringen.

Über 200 Telefonate führte sie mit Macur, fütterte sie immer wieder mit Informationen und Tipps, doch letztlich waren es Ermittlungen der US-Bundesbehörden, die Bewegung in den Fall Armstrong brachten. Der Ermittlungsdruck wurde so groß, dass ein Armstrong-Helfer nach dem anderen aussagte. So wurde aus dem Superhero das Riesenarschloch. Man darf aber nicht vergessen: Selbst ein Lance Armstrong war nur Teil des Systems. Das vergisst auch die Autorin manchmal. MARKUS VÖLKER