„Wenige trauen sich noch aus dem Haus“

Rawja Schawa beobachtet die Kämpfe aus dem Fenster in Gaza. „Die Straßen sind voller Kämpfer“, sagt sie

RAWJA SCHAWA ist unabhängige Parlamentarierin aus Gaza.

taz: Frau Schawa, Sie können von Ihrem Büro aus die Kämpfe beobachten. Was ist heute in der Stadt Gaza passiert?

Rawja Schawa: Es fallen immer wieder Schüsse. Wir wissen nicht genau, was los ist, aber es scheint, als sei die Stadt in zwei Teile geteilt. Ein Teil steht unter der Kontrolle der Hamas, der andere unter Kontrolle der Fatah. Genauso ist der gesamte Gazastreifen aufgeteilt: Im Südwesten ist mehrheitlich die Fatah, im Norden die Hamas. Es ist sehr gefährlich, auf die Straße zu gehen.

Wer hat ein Interesse an den neuen Gefechten. Warum gibt es diese Eskalation?

Wir brauchen keinen besonderen Grund mehr. Frustration regiert die gesamte Region. Die Leute sind verunsichert. Es ist furchtbar, mit anzusehen, wie ein Bruder den anderen tötet. Dabei kann man gar nicht sagen, dass es nur um Macht geht. Natürlich will jeder die Kontrolle haben. Und jetzt kommen auch noch die Familienclans dazu und Gruppen, von denen keiner weiß, zu wem sie gehören.

Worum geht es denen?

Um Rache. Die ist in unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Wenn man über hundert Jahre in kriegsähnlichen Zuständen lebt, dann verliert die Institution des Gesetzes an Bedeutung. Die Leute haben das Recht in die eigene Hand genommen, solange die Gerichte nicht funktionierten. Es gibt noch immer zahlreiche Familien, die auf Vergeltung für den Tod eines Angehörigen warten.

Hoffen Sie auf die arabischen Staaten?

Die arabischen Staaten können nicht wirklich etwas tun, außer die politischen Parteiführungen dazu zu bewegen, klarere Anweisungen an die Truppen zu geben. Im Moment sehe ich nicht, wie die Kämpfe gestoppt werden können.

Warum?

Es gibt niemanden mehr, der die Kontrolle hat oder den Zivilisten hilft. Die Leute helfen sich gegenseitig. Wir können noch ein paar Tage, vielleicht eine Woche durchhalten. Dann brauchen die Leute medizinische Versorgung und frisches Wasser. Der Müll muss weggeräumt werden.

Trauen sich die Leute auf die Straße?

Sehr wenige. Die Straßen sind voller maskierter Kämpfer. Ich selbst bin bekannt und werde in Ruhe gelassen. Aber auch ich bewege mich nur per Taxi. Wer mit dem eigenen Wagen fährt, riskiert, dass es ihm gestohlen wird.

INTERVIEW: SUSANNE KNAUL