Eine ökosoziale Wende unter Vorbehalt

THÜRINGEN Rot-Rot-Grün will mehr Geld für Lehrer, Arbeitslose und Wirtschaft. Doch in der SPD gibt es Zweifel, ob die Mehrheit ausreicht

■ Am Montagabend trifft sich der SPD-Landesvorstand in Erfurt, um eine Empfehlung für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen abzugeben. Diese Entscheidung soll dann von der SPD-Basis in Thüringen, rund 4.300 Genossinnen, abgesegnet werden. Die Befragung wird bis zum 3. November dauern. Die Grünen wollen sich am 23. Oktober entscheiden. Dass sie mitmachen, wenn die SPD für Rot-Rot-Grün votiert, ist sehr wahrscheinlich. Im November steht die Wahl des Ministerpräsidenten oder der Ministerpräsidentin an. Ausschlaggebend kann bei der geheimen Wahl das Abstimmungsverhalten der AfD sein.

VON MICHAEL BARTSCH
UND STEFAN REINECKE

Die Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow ist sich sicher. „Wir stellen auf jeden Fall den Ministerpräsidenten“, sagt die Linke mit dem blonden Kurzhaarschnitt. Sechs Mal haben sich die rot-rot-grünen Unterhändler getroffen und stets die konstruktive, sachliche Atmosphäre gelobt. Jetzt am Mittwochabend, nach der letzten, elfstündigen Verständigungsrunde in Erfurt, bekräftigt Hennig-Wellsow nochmal: Auch eine von Bodo Ramelow geführte Regierung wird die Schuldenbremse nicht lösen.

Das Geld, das sich anderswo als No-go für Rot-Rot-Grün erwies, scheint in Thüringen kein Problem zu sein. Ramelow hatte zuvor staatmännisch erklärt, dass alle rot-rot-grünen Pläne „unter Finanzierungsvorbehalt“ stehen. SPD-Verhandlungsführer Andreas Bausewein sekundiert am Mittwochabend mit der Bemerkung, man werde das Geld „gerechter verteilen“.

Inhaltlich scheint Rot-Rot-Grün eine runde Sache zu sein. Man will, so das Ergebnis des letzten Verhandlungsmarathons, einen öffentlichen Beschäftigungssektor für 2.500 Langzeitarbeitslose, mehr Öko-Landbau, mehr Wirtschaftsförderung für Klein- und Mittelständler, anstatt Großinvestoren mit Subventionen zu beschenken. Die von der CDU lange verschleppte Verwaltungs- und Gebietsreform steht auf dem Zettel, ebenso 500 neue Lehrer und ein beitragsfreies Kita-Jahr. Eine ökosoziale Wende in Trippelschritten – wenn das Geld reicht.

Rot-Rot-Grün hat mehr als vage Absichtserklärungen ausgehandelt, bei denen das Schwierige in Prüfaufträgen versteckt wurde. Laut Grünen-Landeschef Dieter Lauinger gab es noch nie so „intensive“ Sondierungen. Man habe bereits „auf Dutzenden von Seiten gemeinsame Projekte“ festgelegt. Schwer zu sagen, was es in Koalitionsverhandlungen noch zu klären gibt.

Manches spricht dafür, dass beim SPD-Landesvorstand am Montagabend weißer Rauch für Rot-Rot-Grün aufsteigt. Aber dass nur noch die Formalitäten fehlten – so ist es auch nicht.

Denn die SPD ist in der Frage Ramelow oder Lieberknecht noch immer in sich gespalten – in Stadt/Land und Jung/Alt. In den mitgliederstarken Ortsverbänden Erfurt, Jena und Gera ist die Stimmung ziemlich klar pro Rot-Rot-Grün. Doch auf dem Land neigen die GenosssInnen eher zur CDU. Matthias Hey, neuer Fraktionchef der SPD im Landtag, sieht eine weitere Trennungslinie: „Die über 60-jährigen Genossen, die die DDR noch erlebt haben, sind skeptisch bei Rot-Rot-Grün. Die Jüngeren sagen eher: Versucht es doch einfach mal.“

Bei einem Treffen des Ortvereins Gotha flogen kürzlich die Fetzen. Hey, der in Gotha das einzige Direktmandat für die SPD gewann, sagt: „Im Ortsverein steht es pari-pari. Manche sagen: ‚Nie mit Ramelow‘, andere: ‚Nie mehr mit Lieberknecht‘.“ Man drohte einander mit Austritten. Hey bemühte die 151-jährige SPD-Geschichte, um die „ideologischen Grabenkämpfe“ zu befrieden. „Am Ende waren sich alle einig, dem Votum des Landesvorstands am Montag offen gegenüberzustehen“ so Hey. Gotha ist immerhin der zweitgrößte SPD-Kreisverband in Thüringen.

Die SPD in Thüringen hat zudem ein etwas seltsam anmutendes Problem. Alle sind sehr, sehr nett zu ihr. „Es gibt“, so Hey, „weder mit Linkspartei und Grünen noch mit der CDU Sollbruchstellen.“ Und: „Die Sondierungen haben gezeigt, dass wir in beiden Koalitionen sozialdemokratische Inhalte durchbekommen“. Um an der Macht zu bleiben, ist die CDU bereit Lieblingsprojekte zu opfern. Auch das Betreuungsgeld, konservatives Tafelsilber, steht zur Diposition. Wenn man bei der Pro-Rot-Rot-Grün-Fraktion in der SPD nachfragt, was mit Ramelow gehe, aber mit Lieberknecht auf keinen Fall, erntet man ratlose Blicke.

Interessant ist daher ein unvermuteter Meinungsumschwung von Jenas SPD-Oberbürgermeister Albrecht Schröter. Der warb kürzlich noch für Rot-Rot-Grün. Jetzt hat er erkannt, dass „eine Stimme Mehrheit“ zu wenig ist. Sowohl Rot-Rot-Grün als auch Schwarz-Rot hätten nur eine Stimme mehr als die Oppostion. Für die Verwaltungsreform, so Schröter, brauche die Regierung aber eine stabile Mehrheit. Daher sei eine Koalition von SPD, Union und Grünen der einzige Ausweg.

Doch Schröter ist nicht in der Landtagsfraktion. Und dort, imMachtzentrum, stöhnen viele bei der Aussicht auf fünf weitere Jahre Koalition mit der CDU. Lieberknecht, so ein SPD-Mann, habe etliche Male mit der SPD Absprachen getroffen und tags drauf in der CDU-Fraktion für das Gegenteil gestimmt. Die SPD scheint sich weniger für Ramelow als gegen die CDU zu entscheiden.

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