Was die Linke vorschlagen sollte

Der brasilianische Sozialtheoretiker Roberto Mangabeira Unger will in seinem Buch „Wider den Sachzwang“ die Linke neu erfinden. Mit Hilfe des Marktes. Und jenseits des sozialdemokratischen Modells

Das kleine Bändchen kommt unscheinbar daher. Mit seinem Titel „Wider den Sachzwang – Für eine linke Politik“, erweckt es den Anschein, es handele sich um ein weiteres der bekannten Pamphlete aus der Oskar-Lafontaine-Ecke oder der „Globalisierungsfalle“-Lade. Der Originaltitel der amerikanischen Erstausgabe war da spurgenauer: „Was die Linke vorschlagen sollte“ lautete er. Denn Roberto Mangabeira Unger, Spross einer brasilianischen Linksdynastie, der sein halbes Leben in Harvard als Rechtsprofessor verbrachte, hat ein ehrgeizigeres Ziel, als die Ungerechtigkeiten des globalisierten Kapitalismus anzuprangern: Er will die Linke neu erfinden.

Unger diagnostiziert, wie der Typus „europäische Sozialdemokratie“ zum globalen Hoffnungsträger all jener geworden ist, die mehr Gerechtigkeit in ihren Gesellschaften durchsetzen wollten: von Schweden bis Brasilien, vom amerikanischen New Deal bis zur deutschen Linkspartei. Aber dieses sozialdemokratische Arrangement wurde selbst zur Basis einer Retrolinken und damit zur Ursache einer Krise der Linken, so Unger. Die Wirtschaftsverfassung wurde nicht angetastet, dafür nachträgliche Umverteilung organisiert, im Interesse historischer „Agenten“, die nach und nach egoistische Pressure-Groups wurden – die Arbeiterklasse, die gewerkschaftlich organisierten Normalarbeiter, die abhängig Beschäftigten in Firma, Büro und Fabrik.

Das sozialdemokratische Modell ist, für Unger, nicht in der Krise – es ist die Ursache der Krise. Denn es legte allen Ton auf die maßvolle nachträgliche Reduktion von Einkommensungleichheiten; das aber, wofür sich Linke in der Geschichte begeisterten, kam unter die Räder: die Vorstellung einer Gesellschaft freier Subjekte, die ihre Anlagen und Talente entwickeln.

Diese Diagnose bringt Unger zu einer Reihe von originellen Schlüssen, die nicht jeder automatisch als links akzeptieren würde. Vor allem hält er ein großes Plädoyer für „mehr Markt“ – aber nicht im Sinne der Neoliberalen, für die „mehr Markt“ weniger gesetzliche Eingriffe in die Macht der Starken heißt. Die Linken sollten „den Markt neu gestalten und demokratisieren“, fordert Unger. Das Ziel dürfe nicht Abschaffung des Marktes sein, sondern im Gegenteil „die Erweiterung der Möglichkeiten, an ihm zu partizipieren“. Unger: „Der ‚Kapitalismus‘ muss den ‚Kapitalisten‘ gewissermaßen oktroyiert werden.“ Markt und Staat sind so gesehen keine Antipoden: Aufgabe emanzipatorischer Politik wäre es aus Ungers Perspektive, vielfältige Hilfen und Ressourcen bereitzustellen, damit möglichst viele Menschen als selbstverantwortliche Akteure am Markt reüssieren können. Das linke Gleichheitsideal dürfe schließlich nicht bedeuten, dass alle „gleich“ sein müssten, sondern dass möglichst alle, ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer ererbten Ausstattung mit ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital, nach oben gelangen können.

Die „neue Linke“, die sich Unger wünscht, sollte sich zum Fürsprecher des Gleichheits- wie des Freiheitsideals machen, eines kooperativen Ethos wie des Marktes. Sie müsste der Klientelpolitik „im Interesse der Arbeitnehmer und Rentner“ (Lafontaine) eine Absage erteilen und eher eine neue Art von „Kleinbürgertum“ als ihren historischen Agenten ansehen: „Arbeiter, die Kleinbürger sein wollen“ (Unger). Wenn man so will: Ich-AGs, aber im besseren Sinn dieses Wortes.

All das ist geistreich, wenngleich streckenweise etwas appellativ und unkonkret, und bisweilen hat man den Eindruck, Unger wüsste auch nicht viel mehr vorzuschlagen als das, was die sozialdemokratischen Reformer des „dritten Weges“ schon Mitte der 90er-Jahre propagierten: dass der Schlüssel zu einer gerechteren Gesellschaft Bildung ist, Investment in Kompetenzen, weil, wie Unger formuliert, „Fähigkeiten zu steigern“ das Beste sei, „was wir tun können, um Ungleichheiten zu überwinden“.

Aber Unger geht es nicht um Menschenänderung statt Systemänderung. Er holt doch weiter aus als die sozialdemokratischen Mittelwegsgefährten. Die legten die Betonung auf Bildung, Qualifikationsmaßnahmen, employability, weil sie die Auffassung akzeptierten, Eingriffe ins Marktgeschehen seien nicht mehr möglich. Unger dagegen plädiert für entschiedene staatliche Eingriffe: Kleine, innovative Firmen sollen gefördert werden. Pointiert könnte man Ungers Vorschläge so zusammenfassen: Alle sollten am besten Unternehmer werden, aber von den anderen nicht durch Konkurrenz getrennt, sondern durch Kooperation mit ihnen verbunden sein. Eine entsprechende Marktordnung, die das begünstigt, sollte die Politik energisch herstellen.

Gewiss, man kennt die Einwände: Schön gedacht, aber wie realisieren? Mit ein paar Fördertöpfen für Start-ups? Blauäugiger Glaube an den Kapitalismus? Andererseits: Unger hat wenigstens eine Idee. Das kann nicht jeder von sich behaupten, der heute als großer Neubegründer der Linken durch die Gegend läuft. ROBERT MISIK

Roberto Mangabeira Unger: „Wider den Sachzwang. Für eine linke Politik“. Aus dem Portugiesischen von Matthias Wolf. Wagenbach-Verlag, Berlin 2007, 176 Seiten, 11,90 Euro