Eine neue kreative Zeitrechnung

KONZERT „FM Biography“ ist das Ergebnis lebenslanger musikalischer Forschungstätigkeit. Die ehemalige Bremerin Johanna Borchert stellt ihr neues Album im Sendesaal vor

„Ich habe halt geforscht, jeden Tag“

Johanna Borchert

VON ANDREAS SCHNELL

Die Wikipedie führt Johanna Borchert als Jazz-Pianistin und Sängerin und Komponistin, auf der einschlägigen Musikmesse „Jazzahead“ war sie ebenso zu Gast wie auf dem Jazz-Festival in Moers, im November ist sie zum Jazzfest Berlin eingeladen – doch Jazz, das ist nicht das, was einem als erstes einfällt, hört man Borcherts neues Album „FM Biography“. Eher schon wirft das Album Fragen auf, vor allem, wenn man es in einem Genre verorten möchte. Da gibt es Songstrukturen, Strophen und Refrains. Zugleich wirken diese Strukturen offen, bewegt sich in ihnen eine ganze Menge, und doch bleibt in ihnen viel Raum. Die Hilfskategorie Avantgarde-Pop könnte eine Krücke sein, um damit in diesem Sinne zurechtzukommen.

Sofern die überhaupt nötig ist. FM Biography offeriert auch deutlichere Hinweise. Eine Stimme, die bisweilen in ihrem kühlen Duktus an die legendäre Nico erinnert, die quecksilbrigen Gitarren-Inventionen von Improv-Legende Fred Frith, assoziative Lyrik, in der immer wieder Naturbilder auftauchen. Und nicht nur in diesem Sinne erschließt sich auch der Hinweis im Titel: Biographisches steckt eine Menge in diesem Album, das die 1983 in Berlin geborene Musikerin während eines Aufenthalts in Oakland, Kalifornien, zu schreiben begann, wo sie auf Einladung von Frith, der am dortigen Mills College lehrt, zwei Monate verbrachte.

„Das war wie der Beginn einer neuen kreativen Zeitrechnung“, erklärt Borchert im Interview. „Die neuen Sachen passten nicht mehr zu meinen Bands, die ich damals hatte und noch immer habe. Vorher hab ich immer für die Bands geschrieben und für andere Sängerinnen. Ich war die Pianistin.“ Das Klavier ist dabei natürlich immer noch ein zentrales Element ihrer Arbeit. Schon als Kind begann sie darauf zu experimentieren.

Damals lebte sie mit ihren Eltern in Ritterhude – zwischen Hühnern und Schafen. „Ich bin ein richtiges Naturkind“, erzählt sie. Später zog die Familie nach Bremen Nord, wo Borchert ihre ersten Auftritte spielte. Mit einer „Oldie Band“, wie sie sich erinnert: „Das waren Herren um die 50 oder 55, die suchten einen Pianisten. Da bin dann ich als 14-Jährige eingesprungen. Beim ersten Mal ist meine Mutter noch mitgekommen, um zu schauen, ob das alles in Ordnung ist.“ Dabei hatte die Mutter die entsprechende Anzeige selbst gesehen. „Die hat da immer für mich mitgedacht.“ Sie ließ die kleine Johanna zuhause am Klavier improvisieren, stundenlang, jahrelang, ohne Unterricht. „Irgendwann meinte sie dann, es wäre gut, wenn ich vielleicht ein bisschen Unterricht nehmen würde. Improvisationsunterricht müsste es doch eigentlich geben. Dann hat sie einen Lehrer gefunden, einen Schulmusiker, der sich autodidaktisch Jazz beigebracht hatte und sehr gut unterrichten konnte. Der hat mir die Grundlagen beigebracht. Es war eher rudimentär und auch ein bisschen autodidaktisch, aber das ist es ja eigentlich immer. Es gibt da ja auch keine richtige Schule.“

Und etwas später im Gespräch bringt sie es auf den Punkt: „Ich habe halt geforscht, jeden Tag.“ Nach der Schule ging sie nach Berlin, um Musik zu studieren, nach Kopenhagen, Indien: „Ich war sieben Monate in Chennai in Südindien und habe dort karnatische Musik studiert, sozusagen die klassische Musik dort.“ Und dann kam eines Tages eine Einladung von Fred Frith. „Wir haben uns bei einem Workshop kennengelernt und ihm unsere CD in die Hand gedrückt. Dann hat er uns ins Stone in New York eingeladen. Bei einer gemeinsamen Session hat er mir dann gesagt: Johanna, für dich wäre es gut, als Gastkünstler zu mir nach Oakland an Mills College zu kommen.“

Frith war, wie erwähnt, auch dabei, als Borchert FM Biography aufnahm, das der Multiinstrumentalist Shahzad Ismaily produzierte, der mit dem Schlagzeuger Julian Sartorius die Studio-Band vervollständigte. Eine Traumbesetzung – aber leider keine Tourband. „Das ist unmöglich“, stimmt Borchert zu. „Mit Shahzad und Julian versuchen wir das, aber Shahzad ist teuer. Der pendelt zwischen New York und Island, wo er bei seiner Freundin wohnt. Er wohnt eigentlich im Flugzeug, sagt er selbst. Wir planen, Anfang nächsten Jahres eine Tour mit ihm und Julian zu spielen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das so gut ist, weil es viel Geld kostet.“

Bei Borcherts Auftritt im Sendesaal ist immerhin Julian Sartorius dabei, außerdem ihr neuer Gitarrist Markus Pesonen, von dem Borchert in den höchsten Tönen schwärmt. Der spielte schon mit Jazz und Improv-Größen wie Phil Minton, Tony Buck, Django Bates und John Tchicai zusammen. Einem spannenden Konzertabend steht also nichts im Wege.

■ Mittwoch, 20 Uhr, Sendesaal