FALSCHER FILM IM GÖRLITZER PARK
: Mir doch egal, wofür sie den Stift braucht

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN

ULI HANNEMANN

Im Café am Paul-Lincke-Ufer herrscht eine Atmosphäre wie in München. Nur servieren die Schauspielerinnen hier den Milchkaffee, während sie dort die Desdemona geben dürfen. „Kreative“ sind in Berlin nun mal der Normalfall – warum sollte sich bloß das Arbeitsamt mit neudeutschen Euphemismen schmücken dürfen, der Arbeitslose selber jedoch nicht?

Unvermittelt ruft vom Nebentisch eine Frau zu uns herüber, ob wir womöglich einen Kugelschreiber hätten. Ja, ich habe einen. Sofort springt sie auf, eilt herbei und schnattert, während ich ihr den Stift heraussuche, laut und aufgeregt, sie müsse sich unbedingt und auf der Stelle „Gedanken, Gefühle und Impressionen notieren“.

Warum erzählt sie mir das?, frage ich mich verblüfft. Ich kenne sie nicht. Glaubt sie etwa, ich hätte ihr den Kugelschreiber nicht gegeben, wenn sie nur eine schnöde Einkaufsliste hätte schreiben wollen? So aber, da sie, für alle im Lokal gut vernehmbar, „Gedanken, Gefühle und Impressionen notieren“ will, habe ich natürlich die heilige Pflicht, sie in ihrem höheren Tun zu unterstützen. Denkt sie. Ich aber nicht. Mir doch egal, wofür sie den Stift braucht. Von mir aus kann sie damit eine ganze Seite karierten Papiers mit kleinen Pimmelchen vollkritzeln. Vielleicht tut sie das ja sogar, denn „Gedanken, Gefühle und Impressionen“ sind natürlich ein weites Feld, und ob Picasso, Beckenbauer oder Goethe: Wie alle Kreativen haben sie mal mit einzelnen Buchstaben, Tonleitern oder kleinen Pimmelchen angefangen.

Vorsichtig schiele ich zur kreativen Frau am Nebentisch hinüber. So weit ich sehe, beschriftet sie ein Reklamemodel in einer aufgeschlagenen Frauenzeitschrift an etwa dreißig verschiedenen Stellen mit kurzen Anmerkungen. Wahrscheinlich schreibt sie „linkes Bein“, „rechtes Bein“, oder „sexistische Kackscheiße“ – so genau kann ich das leider nicht erkennen.

Von der Kreativität zum Wahnsinn ist es nur ein kleiner Schritt, und zwar in beide Richtungen. So klein wie die Entfernung vom Paul-Lincke-Ufer zum Görlitzer Park, einer im Gegensatz zur schönen Hasenheide hoffnungslos übernutzten Müllhalde. Man wird dieser Grill-Favela immer ansehen, was sie ist, denn du kannst zwar den Park aus dem zerbombten Rangierbahnhofsgelände holen, aber das zerbombte Rangierbahnhofsgelände nicht aus dem Park.

Wilde Spasmen

Entsprechend sind die Besucher. Ein meiner Einschätzung nach brasilianischer Partytourist brüllt am Parkeingang wirres Zeug vor sich hin und zuckt dazu in wilden Spasmen. Dazu hat er eine Art Lächeln aufgesetzt, doch seine aggressive Freude wirkt nicht echt: Es ist die trügerische Fröhlichkeit des Clowns, der sich fünf Minuten nach dem mageren Schlussapplaus direkt hinter dem Zirkuszelt eine Kugel in den Kopf jagen wird.

„Versuch’s doch mal mit ’ner Limo, Freundchen“, bin ich versucht, dem Brasilianer zuzurufen, denn nicht unter jedem großen Fuß hält die schwache Brücke des Drogengebrauchs. Stattdessen aber laufen wir in einem weiten Bogen um ihn herum, um ihn nicht zu stören oder unnötig zu reizen.

Weiter auf dem Weg in Richtung der ehemaligen Lokschuppen wandelt vor uns eine Dame in wallendem Hippiegewand und mit einem vollkommen irren, ameisenhaufenähnlichen Dutt auf dem Kopf. Auf einem Hackenporschegestell zieht sie eine in eine Harfenhülle verpackte kleine Harfe hinter sich her. Wenn das hier ein französischer Film wäre, würde ich jetzt rausgehen. Doch zum Glück ist es keiner, sondern nur eine Minute aus unserem realen Leben, die sich mit einer Minute aus dem zum exzentrischen Gesamtkunstwerk getunten Lebenskonstrukt einer anderen Person überschneidet, und kurz darauf halten wir schon nächste Rast im Café Edelweiß mit Blick auf eine Art stillgelegten Steinbruch, der die türkischstämmigen Mitbürger wohl an ihre Heimat erinnern soll.

Es ist eigentlich wie immer. Alle halbe Stunde brummt halbwegs in Sichtweite eine verträumte Schauspielerin vorbei und trägt im Schneckentempo ein halbes Glas Wasser irgendwohin ins Nirwana und noch daran vorbei. Immerhin ist die diesjährige Generation recht freundlich. Früher waren sie obendrein noch feindselig – das scheint sich zum Glück gelegt zu haben: Sobald endlich doch mal eine der Nachwuchsmiminnen an unserem Tisch vorbeikommt und man von der Seite „Hallo“ ruft, ruft sie freundlich „Hallo“ zurück, um innerhalb der nächsten halben Stunde kein zweites Mal mehr aufzutauchen. Ich frage mich langsam, ob ich nicht vielleicht doch in einem französischen Film bin oder zumindest im falschen – für mich ist beides sowieso meist synonym.