Ab in die Nische!

ANSCHLÜSSE Das fünfte „Überjazz“-Festival in Hamburg will beweisen, wie offen der Jazz in alle möglichen Richtungen sein kann. So richtig nötig hat der das aber gar nicht

VON ALEXANDER DIEHL

Jazz also. Wieso plötzlich alles Jazz sein müsse, fragte neulich einer, der selbst auch, im weiteren Sinne, welchen macht: Jazz, wie sie ihn nie gespielt haben, im vielbetränten Club „Birdland“ etwa, in Hamburg, von wo sich der Jazz großteils zurückgezogen hat. Hat er natürlich gar nicht, aber so sehen es viele: alles weg.

Wenn man absieht von den Festivals: Je Event, desto Tourismus, und der steht in der Stadt manchmal schon über dem Hafen. Also schippert man – seit ein paar „Elbjazz“-Sommern – Zuhörer mit der Barkasse auf die andere Elbseite, ist schließlich ein Alleinstellungsmerkmal, dieses ganze Wasser. Und so ein Konzert im Werftambiente – da muss man dabei gewesen sein!

Am anderen Ende des Spektrums, sozusagen, findet sich – das nächste Mal im November – „Jazz & The Edge of The Plate“: Da wird dann zwei Abende lang in einer Kritische-Theorie-geschulten Cocktailbar der dem Freien zugewandte Teil des Genres untersucht. Zwischen beiden schließlich – nicht nur terminlich – das Festival „Überjazz“, das Interessierte nun schon zum fünften Mal in den Kalendern stehen haben mögen.

Warum muss plötzlich alles Jazz sein? Oder vielmehr: Was plötzlich so alles Jazz ist! Vielleicht ist ja doch etwas dran am Klischee von der Ältere-Studienräte-Musik, der – ähnlich wie den Grünen oder der taz – das Stammmilieu abhanden zu kommen droht; schon so vom Demografischen her. Ob ziemlich groß oder ganz klein: Alle drei genannten Veranstaltungen bemühen sich, unterschiedlich ausgeprägt, sichtlich darum, den Jazz bloß nicht nur als das erscheinen zu lassen, was allzu viele zu kennen glauben.

Nein, da wird der Blick über den Tellerrand geworfen und mit der musikalischen Nachbarschaft angebandelt, man stellt Weltoffenheit aus und die Anschlussfähigkeit ans heutige, oft ausdrücklich elektronische Geschehen. Das Ergebnis – sagen wir: das Überjazz-Programm – wird mancher beliebig finden: ein bisschen hiervon, ein wenig davon, könnte er bemängeln.

Aber man kann’s ja auch so sehen: Wer die schrägen Big-Band-Bearbeitungen des Hamburger Elektronik-Zauberlehrlings Felix Kubin mag, geht nicht unbedingt nach nebenan, wo Taylor McFerrin HipHop-Verwandtes darbietet, ja, genau: der Sohn von Bobby. Fürs Schweißtreiben wurden sichere Bänke gebucht, Ebo Taylor und Hailu Mergia; aber auch die Londoner Sons of Kemet vertonen noch das Weltende catchy karnevalesk und mitreißend. Wem derart viel Körperlichkeit nicht geheuer ist, dem bieten wiederum Bohren & der Club of Gore ihren famosen Existenzialismus für todessehnsüchtigere Stunden. Oder den tröstet, noch später am Abend, das Trio-Braun-Drittel Jacques Palminger mit seinem „440 Hz Trio“ und merkwürdig ZDF-tauglichen Vokalschmunzelnummern.

Eine Art Gravitationszentrum soll das 75-jährige Bestehen des „Blue Note“-Labels bilden – bloß: Dass dessen Acts außerhalb einer Nische groß wahrgenommen würden: lange her, US3 etwa, vor 20 Jahren. Und kaum etwas unterstreicht die etwaige Museumshaftigkeit deutlicher als die Feier so eines Jubiläums; wer sich auf vergangene Größe beruft, strahlt wirklich nicht aus, noch etwas zu sagen zu haben.

Wiederum freundlich gewendet: Am besten ist dieses Festival vielleicht genau da, wo es sich nicht sonderlich schert ums Lückenschließen und Schubladenverlassen. Wer die erwähnte Nische vielleicht ganz komfortabel findet, den freut’s dann auch einfach, wenn mit Julia Kadel und ihrem Trio die erste deutsche Blue-Note-Künstlerin seit Jahrzehnten zu erleben ist.

■ Fr., 24. 10., bis So., 26. 10., Hamburg, Kampnagel. Programm und Infos: www.ueberjazz.com