Nichts weniger als die Welthauptstadt

GESCHICHTE Wie Hitler Berlin umbauen wollte und Albert Speer zu diesem Zweck die Berliner Juden deportieren ließ: „Mythos Germania – Vision und Verbrechen“ heißt die aktuelle Ausstellung in den Berliner Unterwelten

VON PHILIPP SAWALLISCH

Wie sähe Berlin heute aus, wenn Deutschland den Krieg gewonnen hätte? Eine Vorstellung davon bekommt man in der Ausstellung „Mythos Germania – Vision und Verbrechen“ in den Berliner Unterwelten in der Brunnenstraße. Sie zeigt, wie sich die Nationalsozialisten die Umwandlung Berlins in ein Machtzentrum vorstellten, das repräsentativ für einen großgermanischen Staat sein sollte, der sich vom Ural bis zum Atlantischen Ozean erstrecken würde.

Kernstück der Ausstellung ist das Modell zum geplanten Zentrum dieser Megapolis. Es stellt die sogenannte Nord-Süd-Achse dar, eine sieben Kilometer lange Gerade mit dem heutigen Hauptbahnhof am nördlichen und dem Südkreuz am anderen Ende. Spaziert man in Gedanken diesen Monumentalboulevard entlang, passiert man im Süden einen Triumphbogen, der an die Helden des Ersten Weltkriegs erinnert. An der Soldatenhalle vorbei, in der man der Gefallenen künftiger Kriege gedenkt, gelangt man zum Runden Platz. Aus dem Brunnen in der Platzmitte schießen Fontänen in die Höhe. Ministerien und Verwaltungsgebäude, aber auch ein Ufa-Kino säumen den Platz. Die Arkadengänge vor den breiten Fronten der Gebäude erinnern an Florenz oder Bologna.

Eine gigantische Kuppel

Vom Runden Platz aus überquert man die heutige Straße des 17. Juni, die neben der Nord-Süd-Achse nicht mehr ist als eine breitere Seitenstraße. Noch stärker macht einem der Anblick des Brandenburger Tors bewusst, in welchen Maßstäben Albert Speer dachte. Auf den gesamten sieben Kilometern wird der Blick auf die Hauptattraktion Germanias gelenkt: die Große Halle. Ein quadratischer Bau, darauf eine gigantische Kuppel, die an das Pantheon erinnert.

180.000 Menschen sollten in diesem größten Kuppelbau der Welt Platz finden. Den benachbarten Reichstag hätte er um mehr als das Vierfache überragt. Für die Inszenierung von Massenveranstaltungen war außerdem das riesige Areal vor der Großen Halle gedacht, auf dem eine weitere Million Volksgenossen Platz gefunden hätte. Betrachtet man das Modell und führt man sich die Ausmaße der Bauwerke vor Augen, gewinnt man den Eindruck, bei alldem handele es sich um eine Utopie und den Ausdruck eines bis dato unbekannten Größenwahns. Doch Germania oder die Welthauptstadt Berlin, wie Albert Speer und Adolf Hitler ihr Projekt auch nannten, war ein konkretes Bauvorhaben. 1940 wollte man den Grundstein der Großen Halle legen, 1950 sollte sie eingeweiht werden. Auch alle anderen Gebäude an der Nord-Süd Achse gedachte man in diesem Zeitraum fertigzustellen.

Germania sollte alle anderen Städte in den Schatten stellen und wäre laut Hitler „nur mit dem alten Ägypten, Babylon oder Rom vergleichbar“. Beispiellos ist die Stadtarchitektur der Nazis aber nicht: Paris durchzieht eine Monumentalachse vom Louvre über den Triumphbogen und die Champs-Élyssées bis in die Vorstadt. Und auch die linke Volksfrontregierung in Spanien plante eine Schneise durch das Zentrum Madrids.

Auch wenn der Baustil der Nazis beeindruckend und furchteinflößend ist, wie es die ausgestellten Modelle, die Zeichnungen und Fotos zeigen, ist er genauso wenig einzigartig wie ihre Stadtplanung. Die Vorliebe für imponierende Größe und kalte, abweisende Formen folgt dem Zeitgeist. So könnte man in Anbetracht des finnischen Reichstagsgebäudes oder der Londoner Universität meinen, Albert Speer wäre hier federführend gewesen. Als George Orwell in „1984“ seine Vision eines totalitären Staates entwarf, diente ihm das Londoner Universitätsgebäude als architektonische Inspiration für sein „Ministry of Truth“. Die Ausstellung zeigt auch, dass die Nazis nicht nur dem klassizistischen Stil mit seinen monumentalen Formen folgten. Für sie galt die Unterscheidung, die Mussolini traf zwischen „der Architektur der Größe und der Architektur der Notwendigkeit“. Überall in Berlin gibt es Kleinsiedlungen, die aus Notwendigkeit entstanden. beschauliche Häuser im Grünen mit Zwei- bis Drei-Zimmer-Wohnungen wie im „Waldidyll“ in Tegel oder einheitliche Wohnkomplexe wie in Charlottenburg-Nord.

Vor allem durch Mechanisierung und Normierung wollte Albert Speer als oberster Bauherr Wohnraum schaffen. Aufgrund der Abrissarbeiten, die Platz schufen für die geplanten Großprojekte und denen ganze Stadtviertel zum Opfer fielen, brauchten Zehntausende Berliner Ersatzwohnungen. Doch Speer und seine Behörde kamen mit dem nötigen Neubau nicht hinterher. Speer initiierte daher die „zwangsweise Ausmietung von Juden“ wie es in der damaligen Behördensprache hieß.

Germania war ein Traum, den Hitler und Speer hegten und der schon bald Wirklichkeit werden sollte. Doch zur Umsetzung ihrer ehrgeizigen Pläne brauchten sie den Terror. Erzählt die Ausstellung mit den Entwürfen und Modellen Germanias die Gruselgeschichte, so deckt sie mit den Bildern von Massendeportationen und Zwangsarbeitern die Horrorgeschichte hinter diesen Plänen auf. Während es den jüdischen Bürgern eine Zeitlang noch möglich war, bei Verwandten unterzukommen, bereitete Speer die Massendeportation aller Berliner Juden vor, um noch mehr Wohnraum zu gewinnen.

Massen an Beton

Aber Speer benötigte für seine Vorhaben auch Massen an Beton, Steinen und anderem Baumaterial. Mit der SS vereinbarte er daher den Bau eines Klinkerwerks für die Produktion von Ziegeln im KZ Oranienburg. Fast alle Konzentrationslager, die zwischen 1937 und 1942 errichtet wurden, lagen in unmittelbarer Nähe von Steinbrüchen. So stieg Speers Behörde, die als Generalbauinspektor denselben Titel wie Speer trug, zum drittgrößten KZ-Betreiber auf. Nur Siemens und die Reichsbahn beschäftigten noch mehr Zwangsarbeiter.

Wie es Speer als Verantwortlichem solcher Verbrechen gelang, von sich selbst das Bild eines „Gentleman-Nazis“ zu entwerfen, den man im schlimmsten Fall als Technokraten, nach eigener Darstellung aber als unpolitischen Künstler sehen sollte, erscheint mehr als rätselhaft. Während Germania eine Planung war, ist Speers Selbstbildnis der eigentliche Mythos. Ein Mythos, bei dessen Entwurf einige halfen und den viele glaubten. Speer wurde nach seiner Freilassung 1966 ein Medienstar. Das bildet den traurigen Epilog der Ausstellung.

In den Nürnberger Prozessen entgeht der Architekt Germanias und Rüstungsminister Speer nur knapp dem Strick. Die nächsten 20 Jahre verbringt er im Spandauer Gefängnis. Dort schreibt er im Geheimen seine Erinnerungen und lässt sie von einem Krankenpfleger hinausschmuggeln. Ullstein kauft die Rechte an dieser Apologie „eines fehlgeleiteten Idealisten“, die satten Gewinn versprechen. Als Ghostwriter verpflichtet sich der Historiker und spätere Feuilletonchef der FAZ, Joachim Fest. Er trägt maßgeblich zum Bild Albert Speers in der Öffentlichkeit bei, das erst seit den achtziger Jahren Schritt für Schritt als Trugbild entlarvt wird. Bis dahin glaubt man die Legende Speers, er habe von der Vernichtung der Juden und anderer Minderheiten nichts gewusst. Die Bereitwilligkeit, Speers Aussagen Glauben zu schenken, geht noch weiter. So wollte er gar ein Attentat auf Hitler geplant haben. Dabei sollte der Führer angeblich mit Gas getötet werden. In einer Ausgabe von 1966 erklärte der Spiegel Speer daher gar „zum mächtigsten Gegner Hitlers“.

Als mit dem Fund neuer Quellen in den nuller Jahren Speers Beteiligung an Vernichtungen und Massendeportationen nicht mehr zu leugnen ist, bedauert Fest, dass ihn Speer an der Nase herumgeführt habe. Fests Nase wollte den Betrug wohl aber auch nicht wittern: Anders ist der Glaube an Speers Ahnungslosigkeit nicht zu erklären. Sicherlich kannte Fest 1969 nicht alle Fakten. Bekannt war aber schon seit den frühen Siebzigern, dass Speer auf einer Tagung der Gauleiter am 6. Oktober 1943 zugegen war. An diesem Tag sprach Himmler ganz offen von den Vernichtungsplänen in Auschwitz, und dem Redetext gemäß scheint Himmler Speer auch direkt angesprochen zu haben. Doch Speer behauptete, er habe die Tagung früher verlassen und Himmlers Rede verpasst. Auch im Nachhinein habe ihm keiner seiner engsten Vertrauten von solchen Plänen erzählt. Dass Speer als einer der mächtigsten Männer im Staat über Jahre nicht mitbekommen haben sollte, was eben in diesem Staat passiert, musste schon Mitte der sechziger Jahre äußerst unwahrscheinlich klingen.

Diese Legenden zerstört die die Ausstellung „Mythos Germania – Vision und Verbrechen“. Sie hielten sich länger als die wenigen Gebäude, die tatsächlich entstanden. Der Flughafen Tempelhof und das Olympiastadion gehörten nicht dazu. Der Rohbau der Wehrakademie wurde nach 1945 zum Teufelsberg aufgeschüttet und das Haus des Fremdenverkehrs zugunsten der Neuen Nationalgalerie abgerissen.

Es blieb nur Abfall

Nur der Bau des Reichsluftfahrtministeriums in der Wilhelmstraße steht noch. Dort befindet sich heute das Finanzministerium. Außerdem der Schwerbelastungskörper in der General-Pape-Straße in Tempelhof, im Volksmund Naziklops genannt. Dieser Zylinder war eine Testanlage für spätere Großbauten. Man wollte beobachten, wie weit der Boden unter seinem Gewicht einsackt, und ihn dann wieder beseitigen. So blieb von den großen Plänen außer einem Gebäude nur der Abfall. Aber alleine der wiegt 12.650 Tonnen.

■ Bis 30. November. Donnerstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr. Berliner Unterwelten, Brunnenstraße 105. Karten im Pavillon am Eingang zum U-Bahnhof Gesundbrunnen