Zärtlichkeit und Brutalität

KINO Isild Le Besco war ein wildes Kind, dann drehte sie Filme über wilde Kinder. Eine Werkschau im Arsenal

Das Nichtvorhandensein jedweder Reglementierung öffnet das Feld für alles, was Spaß macht: sich verkleiden und sich gegenseitig schminken, stundenlang fernsehen, Süßigkeiten stehlen und verzehren

VON CAROLIN WEIDNER

Wollte man eine Verbindung herstellen zwischen den Filmen, die die Französin Isild Le Besco als Regisseurin realisiert, und jenen, in denen sie als Schauspielerin zu sehen ist, müsste man wohl sagen, dass weder die einen noch die anderen durch Gefälligkeit bestechen. Das Kino Arsenal liegt daher mit seinem Titel für die Filmreihe „Wild Child – Filme von und mit Isild Le Besco“, die vom 18. bis 31. Oktober zu sehen sein wird, ganz richtig.

Schon der Eröffnungsfilm „Demi-tarif/Half Price“ von 2004, der zugleich Le Bescos erster eigener Langfilm ist, hat „wilde Kinder“ zum Inhalt. Zugleich dürfte „Demi-tarif“ auch der Film der Schau sein, der etwaige filmische Grenzen am meisten austestet. Denn er handelt nicht nur von drei Geschwistern, sieben, acht und neun Jahre alt, die im Fortlauf dieser knappen filmischen Stunde in einer Pariser Wohnung der Verwahrlosung preisgegeben sind – er ist in seiner ganzen Machart auch durchaus als „wild“ zu bezeichnen.

„Demi-tarif“ hat einerseits etwas von einem recht verstörenden Home-Video, das drei Kinder dabei beobachtet, wie sie, so gut eben möglich, einen Alltag aufrechtzuerhalten suchen (inklusive regelmäßiger Schulbesuche), der durch die völlige Abwesenheit erwachsener Bezugspersonen geprägt ist. Man sieht die Kinder immer dreckiger werden, weite Strecken des Films laufen sie gänzlich unbekleidet durch die Wohnung. Das löst eine starke Beklommenheit aus.

Ein anderes Gefühl stellt sich jedoch ein, wenn man den Kindern in eine Welt folgt, in der sich die desaströsen Verhältnisse plötzlich verwandeln. Denn das Nichtvorhandensein jedweder Reglementierung öffnet das Feld für alles, was Spaß macht: sich verkleiden und gegenseitig schminken, stundenlang fernsehen, Süßigkeiten stehlen und verzehren. „Demi-tarif“ oszilliert so selbstverständlich zwischen diesen Punkten, dass man manchmal kaum fassen kann, wie nah sich Zärtlichkeit und Brutalität dabei kommen.

Im Grunde ist es diese Begegnung, die in Isild Le Bescos Filmen immer wieder anzutreffen und auch der Grund dafür ist, dass man sie so schnell nicht vergisst. Wie sich in „Charly“ von 2007 ein Vierzehnjähriger namens Nicolas mit der jungen Prostituierten Charly in einem Wohnwagen an einer Szene von Frank Wedekinds „Frühlingserwachen“ versucht, ist schlicht fantastisch. Dieser Pubertierende, bei dem man sofort spürt, dass er ein guter Kerl ist, und der womöglich gerade deswegen nicht anders kann, als einzugehen in der Zange zwischen Schule und Kinderzimmer, und schließlich abhauen muss. Wohin? Nach Belle-Île, natürlich. Aber es reicht dann doch „nur“ bis zu Charly, die den Jungen abgebrannt in einer Kleinstadt aufliest. Nicolas wird gespielt von Kolia Litscher, Isild Le Bescos Bruder. Er ist auch als eines der Kinder in „Demi-tarif“ zu sehen. Le Bescos anderer Bruder, Jowan, ist ebenfalls eng in den Schaffensprozess der Schwester involviert: Er ist ihr Kameramann.

Die Familie Le Besco scheint eine interessante zu sein. Es gibt Wurzeln, die reichen bis nach Algerien und Vietnam. Die Mutter ist Architektin, der Vater Linguist. Isild Le Besco ist selbst ein Wild Child: Schule und alles, was dazugehört, möchte sie, noch lange nicht volljährig, hinter sich lassen, um Schauspielerin zu werden. Der Einfall zu „Demi-tarif“ kam ihr zu dieser Zeit, da war sie kaum sechzehn Jahre alt. Dann eine erste Rolle in einem Film von Emmanuelle Bercot, wenig später folgt „Sade“ (2000) von Benoît Jacquot, der Isild Le Besco als junge Emilie de Lancris zeigt, die in ihrem Elternhaus vor Langeweile vergeht und Zuflucht bei Marquis de Sade sucht.

In „Roberto Succo“ (2001) von Cédric Kahn spielt sie die Schülerin Léa, die sich in einer Stranddisco in einen „Kurt“ (Stefano Cassetti) verliebt, der über mehrere Landesgrenzen hinweg von Interpol gesucht wird. Eine grausige Geschichte aus den achtziger Jahren.

Schwerer Stoff ist auch „Pas douce/Die Unsanfte“ (2007), dem Regiedebüt von Jeanne Waltz, in dem Isild Le Besco während eines Selbstmordversuches im Wald das Gewehr plötzlich auf einen Jungen richtet und aus dem Hinterhalt in sein Bein schießt. Oder „À tout de suite“ (2004), ebenfalls von Benoît Jacquot: Hier tritt Le Besco als Kunststudentin im Paris der siebziger Jahre auf, die einen mysteriösen und schönen Marokkaner begehrt, der sich allerdings als Bankräuber entpuppt. Die Studentin wird seine Komplizin. Wie sich Isild Le Besco wohl entschieden hätte?

■ Weitere Informationen unter www.arsenal-berlin.de