FRANZ LERCHENMÜLLER ICH MELD MICH: Nicht so sein Tag
In den Westfjorden Islands, einer der rauesten und abgelegensten Gegenden Europas, wohnen angeblich die besten Seefahrer der Welt. Einen noch größeren Namen haben sie sich freilich als Strandräuber gemacht: Ein Schiff, das dort auflief, hatte nie eine Chance.
In diesem Winter gibt es einen kräftigen Sturm. Reimar Thordur, einer der Verwegensten unter den Verwegenen, ist auf See. Schlimmstes Wetter, ein Orkan, dass sie in den Dörfern bedenklich gucken. Aber Reimar navigiert wie ein Freibeuter und tuckert die Küste entlang Meter für Meter nach Hause.
Es wird Abend, plötzlich sieht er in einer Bucht einen Container liegen, offenbar von einem Frachter gespült. Und das Beste: Die Stahlbox hat einen Aufdruck: „Johnny Walker“. Ein ganzer Container voll Whisky – da kann ein richtiger Isländer nicht widerstehen.
Unter Lebensgefahr lenkt Reimar sein Schiff in die Bucht und paddelt im Beiboot an Land. Dort aber erwartet ihn eine Riesenenttäuschung: Der Container steckt fest in den Felsen – und er ist verschlossen. Reimar rüttelt, flucht, tritt dagegen – es hilft nichts, das Schloss hält.
Aufgeregt pflügt er durch die aufgewühlte See nach Látralag, seinem Zuhause, und macht leise fest, damit keiner seiner Kumpel auftaucht: Einen Container voll Whisky hat ein richtiger Isländer lieber für sich allein. Er lädt ein paar Stemmeisen, den Vorschlaghammer und eine Eisensäge ins Boot. Dann tuckert er wieder hinaus in den Sturm. Es dauert lange, aber er schafft es bis zur Bucht, ankert und macht sich an die Arbeit.
Wie ein Ochse schwitzt und schuftet er, und als der Morgen dämmert, hat er es geschafft: Schloss und Riegel fallen ab. Voller Vorfreude leckt er sich die Lippen, zieht die schwere Tür auf – und erstarrt: Vor ihm ragen Felsen hoch und darüber funkeln Morgensterne. Der Sturm hatte die Rückwand des Containers schon vorher losgerissen, die ganze Kiste wurde leer angespült. „Einmal im Leben richtig geschuftet“, grinst Reimar. „Ehrliche Arbeit lohnt sich einfach nicht.“
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