Figuren, die keinen Ausweg sehen

Der Videokünstler Willie Doherty changiert in seiner Hamburger Ausstellung ein wenig unentschlossen zwischen Konkretion und künstlerischer Überhöhung des Täter-Opfer-Denkens. Und zeichnet so doch ein interessantes Psychogramm der nordirischen Gesellschaft

VON PETRA SCHELLEN

Wüsste man nicht, dass der Künstler Ire ist, man begriffe diese Ausstellung wohl nicht. Verstünde nicht die Tonspuren, die mit hartem nordirischem Akzent gesprochen sind, begriffe nicht das Elend der Frau auf dem vor Video vor dem Wellblech-Zaun. Nicht den Sinn der Endlosspiralen des Denkens und Redens der Figuren. Aber man weiß es ja: Es ist Willie Doherty, einer der prominentesten (nord-)irischen Videokünstler, der da im Hamburger Kunstverein ausstellt. Und vorausgeschickt hat er, dass alle hier gezeigten Videos im nordirischen Derry entstanden sind, wo er seit seiner Geburt lebt.

Derart gebrieft, wird man langsam hineingezogen in das merkwürdige Changieren zwischen Außen- und Innensicht, das Dohertys Ausstellung prägt. „Re-Run“ etwa, ein auf zwei gegenüberliegende Leinwände projiziertes Video, das einen Mann zeigt, der über eine Brücke rennt. Der Film kommt als Endlosschleife daher: Das Ziel erreicht der Läufer nie. Mal schaut man ihm ins Gesicht, mal auf den Rücken, und seine Bewegung ist durchaus rhythmisch gefasst: In immer schnelleren Wechseln werden Gesicht und Füße in gezeigt, als habe Doherty das serielle Prinzip zelebrieren wollen – um es en passant zu durchbrechen. Denn nach einer Weile sprengt er den dualen Rhythmus und zeigt kurz den Bauch des Läufers – jenes Bindeglieds zwischen Kopf und Bein, zwischen Idee und Tat, das Kompromisse möglich machen und diesen alten Konflikt lösen helfen könnte.

Willie Doherty liebt und zelebriert sie in seinen Sequenzen, die Gleichzeitigkeit von These und Antithese, das Paradoxon von Täter und Opfer, für das auch der Brückenläufer steht. Hat dieser eine Bombe gelegt – oder läuft er vor ihr davon? Und was ist mit jenem Mann, der im Video „The Only Good One is A Dead One“ eine dunkle Landstraße entlangfährt und aus dem Off davon spricht, dass er sich beobachtet fühlt und Angst hat, ermordet zu werden. Um sofort danach zu erklären, dass er den dort, der täglich dieselbe Landstraße entlangfährt, töten wird. Ein abrupter, fast schizophrener Perspektivwechsel, ein Verweis auf die mentale Verfassung der nordirischen Gesellschaft: „Das Gefühl des Beobachtetwerdens“ sei dort „gesellschaftlich verinnerlicht worden“, schreibt Ausstellungsmacher Francis McKee über die Hintergründe von Dohertys Kunst. Diese Traumatisierung einer ganzen Gesellschaft sei auf auf zwei Ebenen passiert: Einerseits wurden Nachbarn, Freunde und Verwandte zu misstrauisch beäugten Fremden, zwischen denen jede Alltagshandlung codiert und deutbar ist: Jeder kann sich plötzlich als „auf der anderen Seite stehend“ entpuppen. Das britische Militär andererseits hat die Kontrolle in die politische Dimension überführt und mit Hilfe von Wachtürmen und Kameras professionalisiert. Nordirland sei bis in die späten Siebziger Jahren eine „der am stärksten militarisierten Zonen in ganz Europa“ gewesen, so McKee. Den Konflikt beendet haben weder das „volkstümliche Sicherheitssystem“, mit dessen Hilfe schon Kinder „über bis zu 30 Methoden verfügen, die Konfession eines Menschen zu erkennen“, noch die Wachtürme: Der Konflikt sitzt tief, und auch Doherty sieht die Zukunft Irlands nicht rosig.

„Ich sah sofort, dass er einer von ihnen war“, sagt eine Frau in „Tell Me What You Want“ aus dem Off. Ihre Stimme wurde über die Aufnahme einer nächtlichen, regennassen Straße gelegt. „Ich hätte nie gedacht, dass sie so etwas tun würde“, sagt ein Mann auf dem Bildschirm gegenüber, der den blühenden Grünstreifen einer Landstraße zeigt.

Tatort Straße: Er scheint wichtig zu sein in diesem Konflikt. Er spielt ein zentrale Rolle auf Dohertys Videos, die immer auch mit dem Konstrukt idyllischer Landschaft arbeiten: Pittoresk wirken Landstraße und Grünstreifen, und dem Betrachter wäre es entschieden lieber, dieses Idyll wäre kein Ort der Gewalt. Ein beschämend schlichter Gedanke, der doch wiederkehrt: Denn vielleicht sind solche Elemente Ausdruck einer subtilen Trauer des Künstlers über den Missbrauch seiner Heimat durch die Gewalt.

Auch das Video „Empty“, das Standbild eines leeren Belfaster Bürogebäudes, bringt immer wieder Natur ins Bild: Wolken spiegeln sich in den Fenstern, nebenan blühen Bäume. Selbst der blätternde Putz des Gebäudes wird zum Trash-Ästhetikum. Vielleicht eine Parabel auf die zum Selbstzweck gewordene Gewalt. Auf Menschen, die sich verrannt haben und nicht mehr herausfinden aus ihrer Selbstrechtfertigungs-Ideologie: Mit harter Miene spaziert in „Closure“ eine Frau an einer Sicherheitsanlage entlang, einer Art Wellblechzaun. Sie habe explodierende Häuser, schmelzenden Stahl, fallende Decken erlebt, sagt sie in ihrem Monolog, und sie sei entschlossen. Wozu aber – zur Rache? Zur Beendigung ihres eigenen Elends, und sei es durch die Erschaffung fremden Elends?

Dohertys Figuren sehen keinen Ausweg. Auch der Künstler bietet auf den ersten Blick wenig außer Spiralen und Wiederholungen. Irritierend auch die Anonymität der Sprecher aus dem Off, bestenfalls als Schattenriss oder Gegenlicht-Aufnahme erfasst. Andererseits ist Anonymität ein Charakteristikum des Konflikts und für Doherty Teil des künstlerischen Spiels – ebenso wie die fast archetypischen Figuren: Die Frau am Wellblech-Zaun könnte eine Revolutionärin sein, eine irische Meinhof vielleicht. Und der Läufer auf der Brücke: Sieht er aus wie ein Ire? Muss er das? „Ich halte nichts davon, den Konflikt und seine Protagonisten schwarzweiß zu malen“, sagt Doherty. „Ich lebe in einer Region, in der die Dinge sehr komplex sind und in der man lernt, die Motive hinter einem Attentat zu verstehen und seine Folgen zu verabscheuen.“

Ein Paradoxon, das den nordirischen Alltag durchdringt und sensibel für Grautöne macht. Und für einen vielleicht unlösbaren Konflikt. Das hinzunehmen fällt dem Außenstehenden schwer. Auf positive Antworten ist Doherty nicht abonniert, Schweigen mag er trotzdem nicht: „Irgendwann habe ich entschieden, dass ich als Künstler ein Statement zu den politischen Verhältnissen abgeben muss.“

Dass er dabei meist ambivalent bleibt und allenfalls ganz leise Zweifel am Sinn des Kämpfens äußert, irritiert allerdings. Um wirklich zu schockieren, sind seine Bilder nicht konkret genug. Um das Täter-Opfer-Muster künstlerisch aufzulösen, müsste man andererseits nicht den Nordirland-Konflikt bemühen. Ehrenwert ist es wiederum, diesen von Europa ein bisschen vergessenen Konflikt ins Bewusstsein zu rücken. Und so verlässt man die Schau mit dem Gefühl, dass sich da einer nicht so recht hat entscheiden können.

Die Ausstellung ist bis zum 24. 6. im Hamburger Kunstverein zu sehen.