Die Verklärung geht weiter

Politik? Nationalsozialisten? Massenbegeisterung? Alles nur eine Frage der urbanen Dynamik und des ästhetischen Klimas, wie der Kunsthistoriker Rainer Metzger im Bildband „Berlin. Die 20er Jahre“ erläutert. Hauptsache, es glitzert

Wenn über das Berlin der 20er-Jahre gesprochen wird, assoziieren die meisten nur das, was sich von den Erinnerungen Christopher Isherwoods in dem Musical „Cabaret“ erhalten hat. Sie sehen im damaligen Admiralspalast nichts als einen großen „Kit-Kat-Club“, in dem die Libertinage alltäglich war. Andere denken zudem an Claire Waldoff oder Anita Berber, an Tucholsky, an Klaus, Erika oder Heinrich Mann, an das Romanische Café und das Adlon, an Prunk, Pracht und vor allem an den Glitzer.

Manche, die sich an Fragen der politischen Moral nicht so sehr stören, erinnern sich liebevoll an Gründgens, Rühmann, Ernst Udet und ihre so genannten tolldreisten Späße. Einige immerhin erwähnen die Arbeiterviertel, den „Roten Wedding“, die AEG, Siemens und Borsig. Sie erinnern daran, dass 3,99 Millionen der in Berlin damals lebenden vier Millionen Menschen schuften mussten und sich keine sündhaft teuren Abende im Moka Efti oder Haus Vaterland leisten konnten. Doch selbst diesen Realisten fällt kaum ein Bild ein, das nicht schon durch x-fache Verklärung vollständig romantisiert worden ist.

In dem prächtigen Band „Berlin. Die 20er Jahre“ aus dem Wiener Christian Brandstätter Verlag, für den der Verleger mehrere hundert Schwarz-Weiß- und Farbbilder ausgesucht hat, finden sich all diese Klischees wieder. Brandstätter hat die hinlänglich bekannten gesellschaftskritischen Bilder von Dix und Grosz ausgewählt, der Buchumschlag von „Berlin Alexanderplatz“ findet sich ebenso wie Szenenfotos aus dem Film „Metropolis“. Allerdings hat es Brandstätter nicht dabei bewenden lassen, er präsentiert Bilder vom Potsdamer Platz, die weniger berühmt sind, Fotos von Büromaschinenmessen oder von öffentlichen Boxkämpfen. Kurz, die Bilder zeigen fast das ganze damalige Berlin.

Lediglich das „Zille-Milieu“ kommt nur am Rande vor, es wird nur implizit in der Abbildung von Arbeiterkämpfen mitgeliefert. Oder es erscheint in ästhetisierter Form. Kriegsinvalide auf Gemälden müssen dann für jene sprechen, deren Wohnräume, Kaufhäuser oder Kneipen kein konkreteres Abbild finden.

Der Autor, Rainer Metzger, immerhin Professor für Kunstgeschichte, schafft es dagegen, im Text die sozialen Verhältnisse beinahe restlos auszublenden. Wenn er sie dann doch erwähnt, so gelten sie lediglich als Effekte einer urbanistischen Haltung. Die Revolutionskämpfe und die Schlägerbanden der NSDAP dienen in Metzgers Text als Kulissen für eine die krassen Gegensätze feiernde Flaneurshaltung.

Der Kunstprofessor scheint der Dromologie eines Paul Virilio verfallen zu sein: Alle Hervorbringungen des 20er-Jahre-Berlins, seien es nun literarische, bildnerische oder musische, selbst die gesamte Politik, ergeben sich für ihn aus der Dynamik, die Berlin seinerzeit prägte. Zwar benennt er Gottfried Benns Arroganz und „Stumpfsinn“ im Jahre 1933, doch setzt er relativierend dazu: „Das spricht Bände für das Klima, das 1933 in Deutschland herrschte.“ Nun war aber gerade der verhältnismäßig kühle Benn kein Opfer des Klimawandels, sondern, wenngleich nur für ein paar wenige Jahre, ein bewusst agierender Täter. Einfach „typisch“, wie er meint, „für das Zeitalter des Totalitarismus“ waren Benns Wandlungen „vom Revolutionär zum Opportunisten zum Reaktionär“ eben nicht.

Metzger behauptet auch: „Berlins Spektakelkultur war also nicht zuletzt das Versprechen auf das Glück der Masseneuphorie. Wenn nun einer kam und jenes weitergehende Versprechen abgab, das Glück der Masseneuphorie zurückzubringen, es politisch wiederherzustellen, in greifbare, haptische Realität umzusetzen, so brauchte er die Bereitschaft dazu nur einzusammeln.“ Bei allem Respekt, so locker ging es für die NSDAP nicht. Und es war ja nicht nur die hektische „Metropole“, die die von Metzger so geheißene „Hitlerei“ herbeigesehnt hat, es war genauso die stumpfe Provinz.

Durch einen solchen allzu naiven Text werden auch dann die Bilder, die der Text zu deuten und zu homogenisieren versucht, zu dem einen Bild, das man schon in der Berlin-Stilisierung der alten West-CDU so grundsätzlich scheußlich fand: ein melancholisches Kitschding.

JÖRG SUNDERMEIER

Rainer Metzger: „Berlin. Die 20er Jahre“. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2006, 400 Seiten, 49,90 €