Das Paradies diesseits der Mauer

Zwischen Hightech-Wunderland und Sparta der Neuzeit: Donna Rosenthal zeichnet in ihrem Buch über „Die Israelis“ den jüdischen Staat als gelobtes Land des Multikulturalismus, verschweigt aber auch dessen Schattenseiten nicht

Wenn Israel in den Schlagzeilen steht, dann vorwiegend wegen Krieg oder Terroranschlägen. Die mediale Fixierung auf Konflikte und Gewalt, die auch für andere Länder gilt, lässt den Alltag der Menschen in den Hintergrund treten. Die Klage über ein verzerrtes Israel-Bild ist daher verbreitet. Die US-Journalistin Donna Rosenthal richtet in ihrem Buch „Die Israelis“ den Blick einmal auf die anderen Seiten des Landes: etwa auf Israels Multikulturalismus. Hätte der Begriff derzeit nicht so einen schlechten Ruf – Israel müsste als dessen Musterland gelten. Kein anderes Land der Erde weist eine so bunt gewürfelte Bevölkerung auf wie der nominell jüdische Staat.

Israel ist eine Nation von Immigranten, und das seit der Staatsgründung vor 50 Jahren: Selbst heute noch sind knapp ein Drittel aller Staatsbürger nicht im Land geboren worden. Die jüngste Einwanderungswelle nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bescherte Israel noch einmal einen Zuwachs von einer Million Neubürgern. Seitdem verfügt das Land über den weltweit höchsten Anteil an Naturwissenschaftlern, Ingenieuren, Ärzten und Musikern pro Einwohner. Auch in anderen Bereichen ist Israel daher ein Land der Superlative: Nach den USA ist kein anderes Land mit seinen Hightechfirmen an der New Yorker Börse so stark vertreten, rechnet Rosenthal vor. Vor allem in den Sparten Internet-Sicherheit, Biotechnologie und Medizintechnik ist es führend.

Der Hightechboom ist eng mit der zentralen Rolle der israelischen Streitkräfte verknüpft. Software-Unternehmer Gil Shwed (Spitzname „Gill Bates“), ein Star der Start-up-Szene, diente einst in nachrichtendienstlichen Eliteeinheiten. Produkte, die Ingenieure dort für die Streitkräfte entwickelten, kamen später dem zivilen Markt zugute. Die Armee, das macht Rosenthal deutlich, ist das Rückgrat der israelischen Gesellschaft. Sie ist in dem Einwanderungsland nicht nur die wichtigste Integrationsmaschine, aus ihr rekrutiert sich auch die Elite des Landes: Politiker wie Olmert, die nicht zuvor als Offiziere gedient haben, gelten noch als Ausnahme.

So schwankt das Bild, das Rosenthal von Israel zeichnet, zwischen dem Klischee von der „einzigen westlichen Demokratie im Nahen Osten“ und einer Art Sparta der Neuzeit. Rosenthal, das wird klar, ist begeistert von Israel, verschweigt aber nicht die Schattenseiten des israelischen Traums – die umfassende Militarisierung des Alltags, die schon mit patriotischen Gedichten im Kindergarten beginnt, und das tief sitzende Gefühl, von Feinden umgeben zu sein.

In einem der besten Kapitel versucht Rosenthal, den israelische Nationalcharakters zu beschreiben. Das Gefühl des ständigen Ausnahmezustands setzt das Leben unter Strom. Und die israelische Erziehung zur Selbstständigkeit erlaubt sexuelle Freizügigkeit, ohne die starke Familienorientierung in Frage zu stellen. Zu Israel gehört auch der Machismo – ebenso wie eine direkte Art, Dinge anzusprechen, die von Außenstehenden oft als unhöflich und grob ausgelegt wird. Dazu gehören aber auch die unverhohlenen Vorbehalte zwischen den Bevölkerungsgruppen, die bis zum offenen Rassismus reichen.

Die Gründergeneration aschkenasischer Juden, die aus Osteuropa nach Palästina kam, schaut auf orientalische Mizrahim herab, die in den 50er- und 60er-Jahren aus Marokko, dem Jemen oder dem Irak ins Land strömten und ihre Vorliebe für arabisches Essen und Musik mitbrachten. Die Mizrahim wiederum fühlen sich jetzt von den areligiösen „Russen“ verdrängt, die oft mit einem nichtjüdischen Ehepartner kamen.

Dieser demografische Wandel hat die Kluft zwischen säkularen und religiösen Israelis verstärkt. Hinzu kommt das spannungsreiche Verhältnis zu den – muslimischen und christlichen – Palästinensern, die innerhalb der Grenzen leben, und die Last der Siedlungen in den besetzten Gebieten. Von den sozialistischen Visionen der Anfangszeit ist nicht mehr viel geblieben. Heute verrichten in den legendären Kibbuzim Gastarbeiter aus Thailand oder China die landwirtschaftliche Arbeit, während andere ganz auf vegetarische Restaurants und Yoga-Kurse umgestellt oder Einkaufszentren errichtet haben.

Die Analyse der „Amerikanisierung“ Israels hat man bei Tom Segev in „Elvis in Jerusalem“ allerdings schon besser gelesen. Überhaupt ist Rosenthals Darstellung in der Absicht, ein möglichst breites Panorama der israelischen Gesellschaft zu zeichnen, stellenweise oberflächlich. Die prekäre Lage der Gastarbeiter etwa ist ihr keine Erwähnung wert. Symptomatisch ist aber ein anderer blinder Fleck: Die Palästinenser jenseits der Mauer, in den besetzten Gebieten, tauchen bei ihr nur als Mörder, Lügner und Terror-Sympathisanten auf. Das deckt sich mit dem israelischen Selbstbetrug: Man würde ja in Frieden leben, wenn nur der palästinensische Terror nicht wäre. DANIEL BAX

Donna Rosenthal: „Die Israelis. Leben in einem außergewöhnlichen Land“. Aus dem Englischen von Karl-Heinz Siber. C. H. Beck, München 2007, 409 Seiten, 24,90 Euro