Bilder, Räume, Welten

THEATER Bis Anfang Juli zeigt das Festival Theaterformen in Hannover mit 20 internationalen Produktionen die ganze Bandbreite zeitgenössischer Formen von Theater

Quesnes Stück rückt all das ins Zentrum, was sonst ringsum die Bühne geschieht

VON ROBERT MATTHIES

Bilder, Räume, Welten. Täglich erschaffen sie sie aufs Neue, bauen sie auf und schließlich wieder ab. Drücken Hebel, ziehen Seile, schieben Wagen, rücken Gegenstände, Menschen, Szenen ins Rampenlicht, in dem sie selbst nie stehen. Für das Publikum bleibt der Arbeitsalltag der Bühnentechniker unsichtbar, wenn der Vorhang aufgeht. So mancher Bühnen-Held aber verdankt den Schnürmeistern, Untermaschinisten, Möblern, Beleuchtern und Requisiteuren nicht weniger als sein Leben – kein deus ohne machina.

Auch Philippe Quesne weiß, wie wichtig es ist, dass jeder ihrer Handgriffe sitzt, damit die Illusion perfekt wird: Bevor der französische Regie-Shooting-Star sich Anfang der 2000er mit seiner Theaterlabor-Compagnie Vivarium Studio auf die unabschließbare Suche nach einer immer gemeinsam neu zu erschaffenenden Theater-Utopie begeben und damit weltweit Erfolge gefeiert hat, ist er selbst jahrelang als Bühnenbildner für Theater und Opernhäuser im Hintergrund geblieben.

Nicht zuletzt deshalb hat sich Quesnes Blick auf Theater-Mensch und Bühnen-Welt die unvoreingenommene Neugier bewahrt: Das Theater des Vivarium Studio beginnt stets von Neuem, erzählt keine fertigen Geschichten und liefert keine endgültigen Antworten. Viel mehr interessieren sich Quesne und seine Mitstreiter – Schauspieler, Maler, Tänzer, Musiker und ein Hund – für die kleinen Gesten, das Herumprobieren und Skizzenhafte, die Dokumentation unspektakulärer Rituale, die Kunst als unerschöpflicher Schöpfungsakt: die Geschichte der Welt und des Lebens als Bruch und Neuerfindung, als komplexe Inszenierung und einfache Absurdität.

Das Interesse am Unspektakulären hat Quesne auch auf die Idee für sein Stück „Pièce pour la Technique du Schauspiel de Hanovre“ gebracht: Entstanden ist die erste Arbeit, die er nun außerhalb Frankreichs ohne seine Compagnie präsentiert, im Anschluss an eine freundschaftliche Begegnung mit den technischen Abteilungen des Schauspiel Hannover, mit denen er vor zwei Jahren seine Produktionen „L’Effet de Serge“ und „La Mélancolie des Dragons“ für das Festival „Theaterformen“ auf die Bühne gebracht hat. Ein Stück über all jene und mit all jenen, deren Erscheinen bei Proben und Vorstellungen im Normalfall ein Problem ist, das statt Monologe haltenden Schauspielern gemeinschaftliche Arbeitsprozesse in den Blick nimmt und all das ins Zentrum rückt, was sonst ringsum die Bühne geschieht.

Zu sehen ist Quesnes Dokumentation der verborgenen Theatermaschine nächsten Donnerstag- und Freitagabend im Rahmen der diesjährigen „Theaterformen“ im Schauspielhaus in Hannover. Das vor vier Jahren neu aufgelegte und seitdem einmal im Jahr abwechselnd in Braunschweig und Hannover stattfindende Festival präsentiert bis Anfang Juli in knapp 90 Vorstellungen an zwölf nicht immer gewöhnlichen Spielorten zwanzig internationale Produktionen, die die ganze Vielfalt zeitgenössischer Formen von Theater abbilden, darunter zwei Ur- und dreizehn deutsche Erstaufführungen. Dabei sind nicht nur Bühnen-Experimente à la Quesne zu entdecken, der auch mit dem aktuellen Stück „Big Bang“ seines Vivarium Studio zu Gast ist. Darin denken sechs auf einer kleinen Insel gestrandete Menschen nach einem großen Knall die Welt neu, eine Welt, die sich beständig weiterdreht, altert und verändert, ebenfalls ein Spektakel des Unspektakulären.

An den äußersten Rand des Szenischen und in die Grenzzone zwischen Theater und bildender Kunst begeben sich die KanadierInnen Janet Cardiff und George Bures Miller mit ihrer begehbaren Installation „Ship o’ Fools“. Aufgebaut haben sie ihr spukendes Schiff voller geheimnisvoller Schätze, flüsternder Gespenster und Lieder aus dem Nirgendwo auf dem Opernplatz. Eine theatrale Installation, die sich selbst bespielt und in der jeder ganz auf sich allein gestellt bleibt. Und für sich selbst entscheidet, wie lange das Stück dauert.

Selbst bespielbar ist auch das „European Union Identity Trading Game“ „Europoly“ des in Belgrad geborenen und nun in Wien lebenden Künstlers Dejan Kaludjerović im Pausenfoyer des Schauspielhauses: Ob man sich das Migrations-Monopoly als Ausstellungsstück ansieht oder den Kampf um Staatsbürgerschaft, Arbeitsplätze, Krankenversicherung und Anerkennung aufnimmt, bleibt den Vorbeiwandernden überlassen.

Klassisch nimmt sich dagegen die Hemingway-Roman-Umsetzung „The Select (The Sun Also Rises)“ der New Yorker Gruppe Elevator Repair Service aus: In der temporeichen Inszenierung des Romans „Fiesta“ können SchauspielerInnen ihre ganze Kunstfertigkeit beweisen. Und auch der abendliche Ausklang ist diesmal einem klassischen Format vorbehalten: Zu erleben sind im Festivalzentrum bei freiem Eintritt Open-Air-Konzerte einer ganzen Reihe illustrer Künstler und Bands, darunter die Schweizer Aeronauten, die Österreicher Kreidler und die Nordlichter Jochen Distelmeyer und School of Zuversicht.

■ Hannover: Mi, 22. 6. bis So, 3. 7., verschiedene Spielorte, Infos und Programm: www.theaterformen.de