Die KP hat noch nicht ausgelernt

Kein Gesetz wurde in der Geschichte der Volksrepublik je so ausführlich diskutiert. Es befand sich während der letzten Tage bereits in siebter Lesung

AUS PEKING GEORG BLUME

Kann die Kommunistische Partei Chinas ihr Land ökologisch und sozial regieren? Kann sie ihre kommunistische Belehrungskultur in eine konfuzianische Lernkultur verwandeln? Und hält ihr Lernvermögen die Chancen für eine spätere Demokratisierung offen? Natürlich bleibt der Nationale Volkskongress in Peking, der morgen zu Ende geht und dessen 3.000 Abgeordnete nur einmal im Jahr für zehn Tage zusammenkommen, ein dem guten demokratischen Schein wegen existierendes Parlament. Letztlich segnet er nur die Vorlagen der Parteispitze ab. Und doch lief auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wo der Kongress seit über 50 Jahren in der Großen Halle des Volkes tagt, in diesem Jahr vieles anders als gewohnt. Weniger denn zuvor erschien die KP als eindimensionale Kraft, die von oben verordnet, was in ihren Lehrbüchern für richtig befunden wird – das geschah unter der liberalen Marktlehre Deng Xiaopings oft nicht viel anders als unter der marxistischen Lehre Mao Tse-tungs.

Beim diesjährigen Volkskongress setzte die Partei die Akzente dort, wo die realen Widersprüche liegen: im Konflikt zwischen Arm und Reich und der ökologischen Gefahr. Beides sind Folgen eines bislang ungebremsten Wirtschaftswachstums, den die Partei zwar nicht grundsätzlich in Frage stellt, aber in Zukunft stärker kontrollieren will.

„Bis vor kurzem waren die meisten Diskussionen um soziale und ökologische Fragen noch rein akademisch – jetzt haben sie nicht nur den Volkskongress, sondern die gesamte Gesellschaft erreicht“, zog der Pekinger Soziologe Wang Hui während des Kongresses Bilanz. Wang, Mitte vierzig, ist ein untersetzter, stämmiger Intellektueller, der jeden Tag mit einem alten Fahrrad zu seinem Arbeitsplatz an der Spitzenuniversität Tsinghua in Peking radelt. Er hat in den letzten Jahren Gastsemester in New York, Berlin und Tokio verbracht, eine vierbändige Geschichte chinesischen Denkens veröffentlicht und ist seit 1996 Herausgeber der Monatszeitschrift Dushu. Vor allem aber gilt Wang als Kopf der sogenannten neuen Linken in China, einer Akademikerbewegung, die seit Mitte der 90er-Jahre versucht, die reine Marktlehre der Reformkommunisten zu bekämpfen.

„Ursprünglich war es ein Ideenstreit zwischen uns und der neoliberalen Schule“, blickt Wang zurück. Er galt einst als Außenseiter und unerwünschter Parteikritiker. Doch immer wieder gab Wang mit seiner Zeitschrift den Anstoß zu neuen Debatten: über die fortwährende Armut der chinesischen Landbevölkerung, die Rechtlosigkeit der vielen Millionen Wanderarbeiter oder die Unentbehrlichkeit eines Rechtsstaats in einem marktwirtschaftlichen System. Oft liegt das schon Jahre zurück. Die KP wollte sich damals für diese Probleme keine Zeit nehmen. „Wachstum über alles“ lautete die Devise des von 1989 bis 2003 regierenden KP-Chef Jiang Zemin. Das änderte sich erst mit Antritt der neuen Führungsmannschaft unter dem amtierenden KP-Chef Hu Jintao und seinem Premierminister Wen Jiabao. Erst vorsichtig, dann immer stärker rückten Hu und Wen die Kritik der neuen Linken ins Zentrum ihrer Politik. „Sie versucht, sich mehr auf die Qualität als auf die Geschwindigkeit des Wachstums zu konzentrieren“, gesteht Wang heute der Parteiführung zu. „Und sie gibt sich große Mühe, die sozialen und ökologischen Probleme in Angriff zu nehmen.“

Beispielhaft für die neue Bandbreite der KP-Politik ist das Eigentumsgesetz, das der Volkskongress morgen verabschieden soll. Kein anderes Gesetz wurde in der Geschichte der Volksrepublik je so ausführlich diskutiert. Es befand sich während der letzten Tage bereits in siebter Lesung. Viele Abgeordnete aber äußerten immer noch Kritik. „Über 60 Stellen wurden im Entwurf des Eigentumsgesetzes korrigiert“, meldete die von der Partei zensierte Pekinger Tageszeitung Xinjingbao am Dienstag auf der Titelseite. Daraus sprach nicht zuletzt der Stolz auf die Vielstimmigkeit eines Gesetzgebungsprozesses, bei dem sonst immer nur die KP-Spitze diktierte und der Kongress abnickte.

Das Gesetz spiegelt den Einfluss der neuen Linken, der aber nicht die grundsätzlich marktwirtschaftliche Ausrichtung der Reform berührt. In China werden Staats- und Privateigentum in Zukunft rechtlich gleichgestellt sein. Das ist der Kern der Reform und für das Land durchaus eine kleine Revolution. „Das sozialistische öffentliche Eigentum ist heilig“, heißt es bis heute in Artikel 12 der chinesischen Verfassung. Doch dieses Heiligtum aufzugeben war für die neue Linke nie ein Problem. Ganz im Gegenteil: Soziale Kritiker wie Wang Hui wissen, wie wichtig der Schutz privaten Eigentums gerade auch für arme Bevölkerungsgruppen sein kann. So spricht etwa Artikel 132 des neuen Gesetzes den chinesischen Bauern erstmals das Recht auf Entschädigung nach Landenteignungen zu.

Gleichwohl sieht das Gesetz davon ab, die Eigentumsrechte der Bauern so zu stärken, dass sie ihr Land frei handeln und verkaufen können. Vielmehr bleibt ihr Boden offiziell Staatsbesitz, während die Bauern Pächter mit lebenslangen, vererbbaren Nutzungsrechten sind. „Wir wollten das nicht ändern, weil das Land für die Bauern in China nicht nur Besitz, sondern ihre einzige soziale Sicherung darstellt“, erklärt Sun Xianzhong, Professor am Rechtsinstitut der Pekinger Akademie für Sozialwissenschaften. Sun ist Hauptverfasser des neuen Gesetzes und ein Jurist mit viel Deutschlanderfahrung. Noch im vergangenen Jahr hat er für ein Gastsemester an der Universität Münster gelehrt. Ein Foto der Uni benutzt er als Bildschirmschoner in seinem bescheidenen Büro unweit des alten Pekinger Kaiserpalasts.

Sun ist eigentlich ein Liberaler, der als Erster in China die Gleichstellung von privatem und öffentlichem Eigentum forderte. Er begrüßt, dass sich der Wert des Privateigentums in China heute auf 2.000 Milliarden Euro beläuft und der Wert des Staatseigentums nur noch auf 1.000 Milliarden Euro, von denen auch noch 600 Milliarden in Zukunft privatisiert werden sollen. „Privateigentum im Wert von 2.600 Milliarden Euro wird bald von dem neuen Gesetz geschützt werden“, sagt Sun.

Einen Durchbruch nennt er das. Aber dafür musste er sich in den letzten Tagen viel Kritik im Kongress anhören. Aus der Kritik sprach die Sorge aufgrund des steigenden sozialen Gefälles in China. Sun begegnete ihr, indem er den Abgeordneten empfahl, die Sozialausgaben zu erhöhen. Das Eigentumsgesetz könne an der neuen Kluft zwischen Arm und Reich nichts ändern.

Dieser Einsicht würde am Ende auch die neue Linke zustimmen. Sie will ja nicht das Wirtschaftssystem verändern, das auf Marktwirtschaft und Privateigentum beruht, sondern die Sozial- und Umweltpolitik als ausgleichende Maßnahmen fördern. Deshalb treten sie dafür ein, dass die Bauern mit ihrem Land nicht spekulieren dürfen, sondern es als Sozialversicherung betrachten. Interessant daran ist auch, dass dies keine Forderung von unten darstellt. Viele Bauern in China wären durchaus froh, wenn sie ihr Land schnell verhökern und mit dem dafür erhaltenen Geld in die Stadt ziehen könnten. Doch die neue Linke ist eben keine soziale Bewegung, sondern von Akademikern geprägt. Und erst dadurch gewinnt sie ihren Einfluss auf die Partei.

Politik ist heute auch in China ein Produkt der Politikberatung. Sie wird nicht mehr maßgeblich in Scheinparlamenten, Parteigremien und Parteihochschulen gestaltet, sondern in Universitäten und wissenschaftlichen Thinktanks. Hier glaubt die KP-Spitze, die regelmäßig an wissenschaftlichen Vorträgen teilnimmt, einen Weg gefunden zu haben, auf dem sie mit der Effizienz westlicher Politiksysteme gleichziehen kann. Zudem liegt dieser Weg in der konfuzianischen Tradition, in der immer nur die besten Schüler des Landes, unabhängig von ihrer Herkunft, für den Beamtendienst am Kaiserhof ausgewählt wurden. Genauso benutzt die KP heute die durch ein hartes universitäres Auswahlsystem gesiebte geistige Elite Pekings.

Nicht zuletzt der während des Volkskongresses bekundete neue politische Wille zur Reduzierung der Todesstrafe in China ist dafür ein Beispiel. Pekinger Rechtsgelehrte aller großen Unis haben seit Jahren die ruchlose Praxis der Todesstrafe angeklagt. Die meisten lokalen KP-Bosse waren dagegen der Meinung, dass sie die Höchststrafe als soziales Befriedungsinstrument vor Ort benötigten. Jetzt schlägt das Pendel langsam zugunsten der Gelehrten um. Als „wichtigste Justizentscheidung in zwei Jahrzehnten“ würdigte die liberale Hongkonger Presse die Entscheidung des Obersten Volksgerichts in Peking, in Zukunft alle Todesurteile der Provinzgerichte zu überprüfen. Westliche Menschenrechtsgruppen erwarten von der neuen Regelung eine „bedeutenden Rückgang der Todesurteile in China“, deren Zahl das Land seit Jahren die weltweite Statistik anführen lässt.

Premier Wen schrieb es vor zwei Wochen selbst in der parteieigenen Pekinger Volkszeitung: „Erst die Anerkennung gemeinsamer Werte wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat wird China eine richtige Integration in die Welt ermöglichen.“ Nur um gleich hinzuzufügen, dass womöglich 100 Jahre vergehen werden, bis China eine reife Demokratie sein könne. Was Wens realitätsfernen Wünschen und der heutigen Reformpraxis jedoch gemeinsam scheint, ist der politische Wille, die KP als moderne Lernpartei zu definieren. In den Hauptfächern Marktwirtschaft und Privateigentum hat sie bereits gute Noten. Jetzt will man auch die Nebenfächer Soziales, Umwelt und Rechtssystem ernster nehmen.