Ein großartiger Entertainer

STUDIO LCB Der aktuelle Shootingstar Clemens J. Setz trat im Literarischen Colloquium am Wannsee auf

Über die Frage, welche Autorenfotos neu aufgehängt werden, tagt gerade eine Auswahlkommission

Es gibt eine neue Parole im Literaturbetrieb. Realistisches Erzählen ist jetzt out. Stattdessen setzt man auf sprachlich hochgetunte und nichtpsychologische Erzählformen. Man hört diese Wendung derzeit oft. Vielleicht sind die Geschichten rund um die Kriegserlebnisse der Großeltern und die Verschiebungen nach der Vereinigung ja wirklich auserzählt, vielleicht hat es auch einen David-Foster-Wallace-Schock gegeben: So wilde Bücher kann man also auch schreiben, wow! Jedenfalls ist Clemens J. Setz vielen Kritikern zuletzt sehr recht gekommen.

Im Rahmen der vom Deutschlandfunk übertragenen Reihe „Studio LCB“ trat der 1982 geborene Shootingstar und Gewinner des Leipziger Buchpreises am Mittwoch im umgebauten Literarischen Colloquium am Wannsee auf. Die neugestaltete Decke im großen Saal ist, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftig. Als Hauptgestaltungselement präsentiert sich eine heruntergezogene, nierenförmige Fläche, in die runde Milchglaslampen eingelassen sind. Das sieht jetzt loungiger aus und nicht so bürgerlich-streng wie vorher – mit allen Vor- und Nachteilen, die so eine Veränderung hin zum Kuscheligen hat. Am Donnerstag fehlten zudem noch die Fotos von Autorengrößen an den Wänden. Über die Frage, welche Autorenfotos neu aufgehängt werden, tagt, wie man hört, gerade eine Auswahlkommission.

Clemens J. Setz wird sicher dabei sein. Er erwies sich als großartiger Entertainer. Über seine Heimat Graz und deren Avantgardetradition weiß er souverän Auskunft zu geben („Avantgarde und Tradition, das ist ein Paradoxon“). Kaum hat der Moderator Hubert Winkels ihn vorfühlend auf seine Fähigkeiten als Obertonsänger angesprochen, demonstriert er sie auch schon; die an- und abschwellenden Töne sind beeindruckend. Genauso wie einige Sätze, die Setz ganz nebenbei sagt und die manche Zuhörer in dem vollbesetzten Saal frösteln machen: „Mitleid ist ein Phänomen, das mich schon sehr lange beschäftigt. Es ist seltsam, auf einem Planeten zu leben, auf dem so etwas existiert.“

Das Veranstaltungsformat sieht vor, dass gleich zwei Literaturkritiker als Gesprächspartner fungieren. Bei früheren Sendungen konnte das dazu führen, dass sie als reine Stichwortgeber des Autors funktionierten. Diesmal war es anders; als Zuhörer bekam man einen guten Eindruck von der positiven Herausforderung sowie den Schwierigkeiten, die Bücher des Clemens J. Setz zu beschreiben. Jens Bisky, SZ-Redakteur, sagte: „Das ist eine Literatur, die explodiert.“ Trotz oder gerade wegen ihrer surrealen Elemente ziele sie dabei emphatisch auf Erfassung von Gegenwart, mit musikalischen Soundtracks und Computerspieldramaturgien. Die freie Literaturkritikerin Jutta Person (die Hubert Winkels falsch mit weichem S anredete) sprach von einem „krassen Gegenprogramm zur Mitfühlprosa“ und von Laborsituationen sowie Versuchsanordnungen, in denen menschliches Verhalten seziert werde.

Ein interessanter und unterhaltsamer Abend. Nur ein Gespräch zwischen Autor und Kritikern kam nicht recht zustande. Am 25. Juni um 20 Uhr kann man das alles auf Deutschlandfunk nachhören. DIRK KNIPPHALS