TJA, FREIMARKT (1): LIONNE FEUCHTWANGER
: Im Bayernzelt

Einmal im Jahr ist Freimarkt – aber muss man darüber schreiben? Kommt auf die Perspektive an, beweist die taz.bremen-Serie.

Der Taxiunternehmer Franz Xaver Ratzenberger war zufrieden mit sich: Mit einer falschen Zeugenaussage vorm Landgericht hatte er den Angeklagten erheblich entlasten können. Ein erkleckliches Sümmchen Geld hatte der Ratzenberger in Aussicht gestellt, sollte er freigesprochen werden. Ratzenberger hatte am Abend dieses Tages im Bayernzelt auf dem Freimarkt, als er sein Auftreten vor Gericht mit seiner Stammtischrunde „Da fehlt sich nichts“ feierte, die Achtung aller Vereinsbrüder für sich. Auch seine Geschwister, sonst ihn für einen Scheißkerl haltend, fanden für diesen Abend, er sei ein feiner Herr, und seine Frau, die ihn früher wegen Misshandlung mehrmals bei der Polizei angezeigt hatte, wissend, dass er sie nur behufs Erwerbs des Taxi-Fuhrparks geheiratet hat und sie gern wieder los sein möchte, liebte ihn sehr. Aber mehr als die andern bewundernd hing an seinen Lippen sein ältester Sohn, der Ludwig Ratzenberger.

Ehrfürchtig trank er jedes Wort, das Ratzenberger langsam, selbstzufrieden unter seinem verfransten, bierschaumbedeckten Schnauzbart hervorkaute. Dunkel erinnerte sich der Ludwig und mit dumpfem Wohlbehagen, wie ihm, schon als er noch nicht gehen konnte, der Vater, mit Hilfe eines Lappens, Bier in den kleinen, gierigen Mund eingeflößt hatte. Und wie hatte des Vaters Fluchen das Zimmer und die Seele des Knaben ausgefüllt, mannhaft, vorbildlich. Dann die Stunden voll heimlicher, verbotener Gaudi, wenn ihm der Vater gegen die Vorschrift, denn er war noch zu jung, das Fahren eines Taxis beibrachte. Und jetzt, wie der Vater dastand, gerühmt von den Leuten im Bayernzelt, glorreich, krönend, schwoll dem Jungen das Herz.

Doch die Freude währte nicht lang. Denn durch den Bierdunst des immer voller werdenden Festzeltes näherte sich ein Fahrer Ratzenbergers, gerade, als der eine ordentliche Portion gesalzenen Rettichs essen wollte. „Hundsknochen, meineidiger, miserabliger“, beschimpfte er seinen Chef. Worauf Ratzenberger, alles sehr langsam, wie unter der Zeitlupe, aufstand und den Bierkrug hob, um ihn am Kopf des Untergebenen zu zerschmettern. Allein der hob gleichfalls seinen Krug und ließ ihn, auch er ohne Eile, doch mit Wucht und als erster auf den Vorgesetzten niederfallen.

Und während die Bamberger zum Tanz aufspielten und sein Sohn Ludwig sich zünftig mit zwei Burschen der Stammtischrunde draußen vor dem City Skyliner prügelte, erlebte der Taxiunternehmer Ratzenberger sein ganzes bisheriges Dasein. Wie er plärrend, blutig und zerdreckt mit anderen kleinen Buben um farbige Steine spielend sie beschiss. Wie er als Mechaniker wegen Unzuverlässigkeit, Faulheit, übler Nachrede eine Stelle um die andere verlor. Wie er Jahr um Jahr im Bayernzelt des Freimarkts herumhockte; vielleicht war das seine beste Zeit, mit dem Recht zu faulenzen; das Bier war dünn, aber reichlich, die Weiber willig.

Dies alles wieder erlebte der Taxiunternehmer Ratzenberger jetzt, während die Knochen seines zerschmetterten Schädels ins Gehirn eindrangen. Es war schön, dies nochmals zu leben, es war ein gutes Leben, er hätte es gern noch ein drittes und viertes Mal gelebt. Aber es blieb ihm nichts übrig, als den Oberkörper nach vorne sacken zu lassen, zwischen Bier und bereitetem, doch nicht gegessenem Rettich ein wenig zu gurgeln und zu sterben.