Spiralnebel neben Tapetenriss

Der Foto-Installationskünstler Peter Piller sichtet mit Leidenschaft Bildarchive – immer auf der Suche nach Absurdem. Die Resultate verfugt er zu Serien. Für eine davon – „Ungeklärte Fälle“ – bekommt er heute in Hamburg den Bâloise-Preis

VON PETRA SCHELLEN

Ja, er liebt diese Fotos. Die überblendeten Gruppenbilder, die aus jedem Feuerwehrmann einen Heiligen machen. Oder die mit den nichts sagenden Wiesen, auf denen demnächst eine Bank oder sonst was gebaut werden soll. „Noch ist nichts zu sehen“, heißt folgerichtig eine der Serien des Foto-Installationskünstlers Peter Piller, der heute in der Hamburger Kunsthalle den Bâloise-Preis bekommt. Parallel wird seine 40 Fotos fassende Installation „Ungeklärte Fälle“ eröffnet.

Piller, der zurzeit an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst lehrt, versteht sich dabei gar nicht so sehr als Fotograf. Er interessiert sich eher für die Auswahl der Bilder. „Als Einzelstücke interessieren mich die Fotos meist gar nicht. Wichtig ist eher die Nachbarschaft, in die ich sie stelle“, sagt er.

Zu endlosen Serien hat Piller, der in Hamburg studiert und bis 2006 auch dort gearbeitet hat, zum Beispiel Hunderte Fotos aus Regionalzeitungen zusammengetragen. Den Zugang zu diesem Fundus verschaffte ihm in den Neunzigern ein Job in einem Archiv. Tausende Fotos glitten während dieser Zeit durch seine Hände. Und fast automatisch keimte das Bedürfnis, sie zu sortieren. „Denn das Absurde, das viele Bilder eint, offenbart sich erst in der Serie“, sagt Piller.

Ein weiterer Freudenquell für den Künstler war daher 2003 das Luftbild-Archiv aus dem Nachlass einer Firma, die in den 80ern Reihenhaus-Siedlungen fotografierte. Piller bekam die 12.000 Fotos geschenkt und hat bei ihrer Durchsicht manch Abstruses gefunden. Zum Beispiel die kunstvoll verschlungenen Garten-Plattenwege, die sich verzweifelt um Individualität bemühen.

Über solche Fotos kann man durchaus lachen, und auch Piller schmunzelt bisweilen. Aber dann sagt er wieder, Humor sei für ihn nur Mittel, kein Zweck. „Lustig sind meine Arbeiten nicht gemeint“, betont er. Denn eigentlich wolle er auf die Absurdität des Alltags hinweisen, auf das Nicht-Serielle, auf irgendwo versehentlich hingeratene Bilder oder Gegenstände, wobei er Beispiele solcher Ordnungs-Störer dann seinerseits in ordentliche Serien bringt.

„Ich habe schon das Bedürfnis, die Welt wegzusortieren“, räumt Piller ein. Aber er hatte immer einen Ordner „ungeklärte Fälle“. Da drin lagen Fotos von Türmen, Baugruben, Yoga-Kursen oder einer Gruppe von Herren, die gebannt zu einer Laterne hinaufschaut. Für diese Bilder hat Piller keinen Titel gefunden. Die dümpelten als latente Beunruhigung in einer Ecke vor sich hin. Bis ihm zu Art Basel 2006 die Idee kam, das das ja gerade das Interessante sein könnte: dass sie sich seiner Sortierwut versperrten. „Wobei es mir nicht um den realen Hintergrund der Fotos geht. Die Bildunterschriften lese ich oft gar nicht. Mich interessiert eher, was sie mir sagen“, sagt Piller.

Auch die Befindlichkeit des Fotografen tangiert ihn nicht. „Diese Fotos sagen eher etwas über meine eigene Psyche aus“, sagt er wieder so lakonisch, dass man nicht entscheiden kann, ob er es süffisant meint oder nicht.

So hat er also voriges Jahr kurz entschlossen 40 der „ungeklärten“ Fotos ausgewählt, auf der Art Basel gezeigt – und prompt den Bâloise-Preis bekommen. Vielleicht wird er ein Buch daraus machen, wie aus anderen Serien. Als Bilderbücher des Absurden taugen die unbedingt, und dies aufzufinden wird Piller nicht müde. Er freut sich vielmehr ehrlich, dass er durch den von einer Basler Versicherung gestifteten Preis Zugang zu deren Schadensfoto-Archiv bekam. Rund 400.000 Aufnahmen hat er bereits gesichtet – eine Fundgrube für einen wie Piller. Erste Serien-Ideen? „Ja, da gibt es zum Beispiel etliche Fotos, auf denen eine schwarze Ledertasche mit drauf ist. Anscheinend haben alle Schadensfotografen ähnliche Ledertaschen, die sie dann aus Versehen mit fotografieren.“

Warum das immer die gleichen sind – Piller weiß es nicht. „Aber erinnern Sie sich, dass unsere Lehrer in den Siebzigern auch alle diese ähnlichen abgewetzten Taschen hatten?“ Ja, man erinnert sich. Und man sieht es vor sich, wie Piller sich auf seine stille Art an diesen Entdeckungen freut. Wie er nächtelang Brand-, Überschwemmungs- und Zerstörungsfotos durchgeht, die nicht nach Thema, sondern nach Eingangsdatum sortiert sind und deren Absurditätsquote hoch ist.

„Das sind ja oft Amateurfotografen, die sich da mühen und denen ständig irgendwelche Dinge unterlaufen“, sagt Piller ohne Hohn. „Da läuft dann schon mal ein Anwohner durchs Bild. Oder der Schadensbegutachter kriecht unter den Tisch, um einen Schaden im Parkett zu knipsen. Oder er setzt fünfmal an, bis er den winzigen Riss in der Tapete endlich abgelichtet hat.“

Abstrakte Reihen von Tapetenrissen könnte man daraus machen. Oder aber eine Serie des Abstrusen – mit jenen Aufnahmen nämlich, die aus Versehen in die Schadensfoto-Ablage gerieten. „Ein Fotograf muss die Kamera mit nach Hause genommen und seine Enkelin fotografiert haben,“ erzählt Piller. „Das Bild muss dann irgendwie in die Ablage geraten sein. Auch das Bild eines Spiralnebels habe er da gefunden.“ Er grinst. Vielleicht für den dereinstigen galaktischen Schaden, man wisse ja nie.

Sicher sei jedenfalls, „dass Schweizer Schadensfotos schon deshalb viel schöner sind als deutsche, weil sie ja alle in dieser wunderbaren Schweizer Landschaft spielen. Und in diesem Idyll erschreckt einen der Schaden natürlich besonders.“ Sagt Peter Piller. Und weiß, dass er es mit seinen Fotoreihen nicht ewig weitertreiben kann, weil die Welt eben nicht seriell, sondern voller Ausrutscher ist.

Und genau deshalb ist er seit einigen Jahren Manns genug, sein eigenes Prinzip ad absurdum zu führen. „Es kommt in den letzten Jahren immer wieder vor, dass ich Fotos aus anderen Serien in meine Ausstellungen schmuggle“, bekennt er. Denn er weiß um seine Sortier-Manie. Das mutige Durchbrechen des so freudig zelebrierten Prinzips „Serie“ ist vielleicht ein erster therapeutischer Schritt dagegen.

Die Fotoinstallation „Ungeklärte Fälle“ ist ab morgen in der Hamburger Kunsthalle zu sehen