NARCO-LITERATUR UND DIE WACHSENDE KLUFT IN EUROPA
: Wandern am Strand

VON ELISE GRATON

GLOBETROTTER

Mein Name ist Graton. Die Versuchung, mich „Gratin“ zu nennen, scheint groß, denn nur die wenigsten können ihr widerstehen. Das ist okay, und ich gebe mir Mühe, jedes Mal mitzulachen. Kürzlich lachte ich darüber sogar alleine: Auf einem Umschlag, den ich aus meinem Briefkasten hervorholte, wurde ich mal wieder als Kartoffelauflauf tituliert. Darin befand sich ein Rezensionsexemplar des Buches „Quesadillas“. Quesadillas sind mexikanische Käsetortillas.

Neugierig schlug ich das Buch auf, das keine Rezeptsammlung, sondern der letzte Roman von Juan Pablo Villalobos ist. Der 41-jährige Autor aus Guadalajara gilt als wichtiger Vertreter der Narco-Literatur, die sich mit dem anhaltenden Drogenkrieg in Mexiko auseinandersetzt. Die eigene Kindheit soll ihn zu „Quesadillas“ inspiriert haben, das mit viel satirischem Witz eine mexikanische Mittelschicht schildert, die nur existiert, weil sie selbst daran glaubt. In Wirklichkeit steht sie stets am Rande des finanziellen Abgrunds einer beim korrupten Staat verschuldeten launischen Wirtschaft. Anstatt die mauschelnde Elite anzuprangern, konzentriert sie sich lieber herablassend auf die Ärmeren, die sich ja immer als einfachere Zielscheibe anbieten.

Kürzlich war ich zum allerersten Mal in Mexiko. Begeistert erzählte ich einer neuen Bekanntschaft, die ich im nördlichen Monterrey machte, von Villalobos’ Roman und dessen sozialen Beobachtungen. Ein wenig entsetzt entgegnete sie: „Aber uns geht es doch gut!“ Mit irritiertem Blick bekannte sie sich zu ebenjener Mittelschicht, und tatsächlich bewohnte die Grafikdesignerin ein gediegenes, zweistöckiges Haus, mit Strom und Wasser, in einem ruhigen Vorort.

Ich kam mir sofort plump vor, denn über das heutige Mexiko weiß ich nicht annähernd genug, um irgendwelche Behauptungen aufzustellen. Ich entschuldigte mich und versuchte meinen Fauxpas damit abzuschwächen, dass das Buch in den Achtzigern spiele. Das sei ja lange her – selbst wenn der damals regierende Partido Revolucionario Institucional seit 2012 wieder an der Macht ist, was auch immer das hieße. Vor allem aber fände ich die Sichtweise des Autors, der sowieso mittlerweile in Barcelona lebt, interessant, vor allem vor dem Hintergrund der wachsenden sozialen Kluft in Europa. Und den damit verbundenen Ängsten und Neurosen. Und dem Hass.

Außerdem versuchte ich mich zu retten – meine neue Freundin starrte jetzt schmollend auf den Boden ihrer betonierten Terrasse –, ich würde viel Sympathie für die Hauptfigur empfinden: den jungen Orest, der von allen Oreo – wie der Keks – genannt wird. Schnell steckte ich mir eine Quesadilla in den Mund. Auf der Suche nach lustigerem Gesprächsstoff wanderte mein Blick über den Mauerhorizont ihres quadratischen Gartens und blieb am Elektrozaun hängen.

Die Sicherheitsinstallation erinnerte mich an die Karibik, wo ich mich eine Woche zuvor an der Küste bei Akumal auf der Suche nach Schildkröten verlaufen hatte. Ich hätte mich links halten sollen, war aber leider rechts am Meer entlang über einen Felsenabschnitt in Richtung eines paradiesisch wirkendes Sandstrandes marschiert. Immer größer und schärfer wurden die Steine, und als ich entschied, wieder zur Teerstraße zurückzukehren, war es zu spät: Eine endlose Reihe von Privatgrundstücken riegelte den öffentlichen Strand von der Straße ab. Privates Wachpersonal ließ niemanden durch! Durstig und müde kämpfte ich mich den Strand entlang, auf der verzweifelten Suche nach einem Ausgang. Es wurde schon Abend, als mir von einem Grundstück Arbeiter zuwinkten. Sie waren gerade dabei, eine Villa zu renovieren: „Hier kannst du raus, aber mach schnell, sonst kriegen wir Ärger.“ Nach ihrer Meinung zu „Quesadillas“ habe ich sie nicht gefragt.

Elise Graton ist freie Journalistin und Übersetzerin in Berlin