„Moment, ich hole meine Mutter“

Um Kinder vor Übergriffen in Chatrooms zu schützen, müssen Eltern Zeit investieren, sagt Psychologin Monika Borek von der Beratungsstelle bei sexuellem Missbrauch „Allerleirauh“. Jugendschutzfilter schützten nicht vor Kontakt zu Pädophilen

MONIKA BOREK ist Psychologin bei „Allereirauh“ , einer Beratungsstelle bei sexuellem Missbrauch in Hamburg FOTO: ALLERLEIRAUH

INTERVIEW: KAIJA KUTTER

taz: Frau Borek, Sie bieten eine Lehrerfortbildung zu „Sexueller Ausbeutung im Internet“ an. Ist das eine Reaktion auf die mutmaßliche Vergewaltigung der beiden Mädchen in Hamburg-Billstedt?

Monika Borek: Nein. Dort ist es zum Worst Case, zu einem sexuellem Übergriff bei einer realen Verabredung, vorbereitet im Chat, gekommen. Wir wissen schon seit längerem, dass das Chatten an sich schon ein Problem ist und es hier einen Bedarf an Fortbildung gibt. Wir sind mit unserer Präventionsarbeit oft in Schulen, in den achten Klassen, wo wir davon hören. Und wir wissen aus der Beratung mit den 13-, 14-jährigen Mädchen, dass das ein großes Thema ist.

Teenager entwickeln Interesse an Sexualität. Wo liegt die Grenze?

Ab dem Punkt, wo es altersunangemessen wird. Wo es für das Kind eine Zumutung wird. Zwölf-, 13-jährige, die chatten, sind neugierig in Richtung Flirt, nicht in Richtung erwachsener Sexualität. Wenn sie dann altersunangemessenen Kontakt mit einem Erwachsenen haben, schadet das den Kindern.

In welcher Weise?

Wenn ein zwölf-, 13-jähriger im Chat ist und ein Kontakt fragt ihn, soll ich dir ein Bild schicken, und er bekommt dann ein pornografisches Bild geschickt, manchmal sogar ein kinderpornografisches Bild, traumatisiert dies das Kind. Das Bild brennt sich ein im Kopf und es lässt es auf lange Zeit nicht vergessen. Es gibt neunjährige Mädchen, die werden mit Sätzen wie „du Nutte, du Hure“ oder „du fickst doch deinen toten Hund“ beschimpft. So etwas erschüttert den Glauben der Kinder an die Welt.

Wie merkt man, dass Kinder ungute Chat-Kontakte haben?

Das ist schwierig. Nicht mal zehn Prozent der Kinder wenden sich an die Eltern. Wenn ein Kind belastet wirkt, Stimmungsschwankungen hat, wenn Eltern das Gefühl haben, da stimmt was nicht, sollten sie hellhörig werden.

Was können Erwachsene tun?

Viel. Sie müssen das Kind in die Welt des Internets begleiten. Man sollte mit den Kindern darüber reden, dass es so etwas wie sexuelle Belästigung im Internet gibt und Verhaltensstrategien absprechen. Wenn dann einer im Chat komisch wird und ein Kind fragt, hast du schon mal Sex gehabt, kann es sagen: ‚Moment mal, ich hole meine Mutter, die kannst du fragen‘. Das ist eine Art sich zu wehren, ohne Opfer zu sein. Oder Eltern könnten sich im Beisein der Kinder als 13-jährige einloggen, um ihnen zu zeigen, dass man dort die Identität verschleiern kann.

Und wie kann man verhindern, dass die Kinder auf eigene Faust chatten?

Verbote machen keinen Sinn. Wichtig ist auch, dass das Kind keinen Internetzugang im Kinderzimmer hat, sondern nur im Wohnzimmer oder Gemeinschaftsraum. Und Eltern sollten sich Zeit nehmen und Ansprechpartner für die Kinder sein, so dass diese von ihren Erfahrungen im Internet berichten können. Eltern sollten dabei sein, wenn sich ihr Kind mit einem Chat-Kontakt verabredet. Dies geschieht häufiger, als man denkt. Eltern sollten das nicht verbieten, sondern ihre Begleitung anbieten. Wenn Kinder sich mit einer Chat-Bekanntschaft verabreden, muss ein Erwachsener mitgehen.

Hört sich zeitraubend an.

Das stimmt. Eltern müssen am Ball bleiben. Und sie sollten nicht schimpfen. Es gibt Kinder, die schämen sich und fühlen sich schuldig. Wichtig ist es, Ruhe zu bewahren und Verständnis für das Empfinden des Kindes zu signalisieren.

Helfen digitale Schutzfilter?

Nach meinen Recherchen nützen die beim Chatten nichts. Es ist nicht zu vermeiden, dass sich in Chats unerkannt Pädophile tummeln.

Hilft es, die Kinder vom Internet fern zu halten?

Man könnte den Schonraum etwas verlängern. Das Einstiegsalter liegt nach neuesten Untersuchungen durchschnittlich bei 11,9 Jahren. Also bei vielen auch noch deutlich darunter. Kinder mehr für andere Dinge zu begeistern und damit ein bisschen vom frühen Computereinstieg abzulenken, ist schon eine sinnvolle Strategie. Jugendliche mit 16, 17 Jahren sind häufig besser geschützt, weil sie eher im abgeschotteten Freundeskreis chatten. Aber auch bei 17-Jährigen sollten Eltern versuchen, im Gespräch zu bleiben, damit sie nicht irgendwelche, zum Beispiel sadistischen, Bilder allein verarbeiten müssen.

Die Schulen verlangen schon in der 5. Klasse Recherchen im Internet. Dann ist Schluss mit Schonzeit.

Das ist ein wichtiger Punkt. Manche Lehrer gehen da eher naiv ran. Und sagen, wir nutzen das für Recherche, für die anderen Dinge fehlt die Zeit. Meistens haben sie gar keine Vorstellung davon, was den Kindern so alles im Internet begegnet. Wir bieten seit längerem Fortbildungen über das Thema Chatten und die wichtigsten Sicherheitsregeln an. Doch leider ist bisher das Interesse begrenzt. Die Schulen sind ja auch mit vielen Aufgaben bei immer knapper werdenden Ressourcen befasst.

Können Sie Eltern gute Literatur empfehlen?

Es gibt eine hilfreiche Broschüre, „Chatten ohne Risiko“, die sie unter www.jugendschutz.de bestellen können.

Infos und Anmeldung zur Fortbildung unter ☎ 040 - 29 83 44 83