Heilige, unheilige Haine

GRÜNZEUG Vielen Völkern gelten Bäume als heilig. Und was machen wir? Holzen sie ab. Über indische Feigen und deutsche Linden

Ein Waldaufenthalt senkt Cortisol-Werte, Pulsfrequenz sowie Blutdruck

VON HELMUT HÖGE

In Berlin begann am 1. Oktober die Motorsägensaison. Jetzt werden wieder die Bäume zurückgeschnitten oder sogar gefällt. Meist von Firmen, die im Auftrag der seit der Wende personell ausgedünnten Gartenbauämter missmutige Billiglohnarbeiter an die Bäume ranlassen. Nach wie vor werden mehr Bäume gefällt als neue gepflanzt. Die positive Nachricht ist: Vor dem Hindu-Tempel in Neukölln wurde ein „Ficus benghalensis“, ein Feigenbaum, gepflanzt.

Die Inder haben ein besonderes Verhältnis zu Bäumen, (heiligen) Hainen und Wäldern. Um es näher kennenzulernen, leistete eine Bekannte, Maja, ihr ökologisches Jahr am Fuß des Himalaja ab, wo sie sich am Widerstand von Waldbewohnern beteiligte, die sich gegen das Fällen „ihrer“ Bäume wehrten. Zuletzt ketteten sie sich an die Bäume an.

Majas Mutter war von ihren Schilderungen so begeistert, dass sie ihr nachfolgte. Sie ist jetzt in dem Alter und in einer ähnlichen Situation wie der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar, als der in seiner Autobiografie „Die Seele der Anderen – Mein Leben zwischen Indien und dem Westen“ schrieb: „Nach der Scheidung von meiner Frau begann für mich ‚Vanaprastha‘, der ‚Rückzug oder die Abreise in den Wald‘, die dritte Lebensstufe, auf der man sich nach und nach aus rein familiären Dingen zurückziehen und für die größere Gemeinschaft engagieren soll. Es ist ein Wechsel von der Praxis der ‚Lebenskunst‘ (‚Dharma‘) hin zur Weitergabe dessen, was man als Wesentliches dabei gelernt hat.“

In einem Artikel über den im „Kaschmir-Konflikt“ zuletzt drohenden Atomkrieg erwähnte die indische Autorin Arundhati Roy ihren Mann. „Er schreibt gerade ein Buch über Bäume. Es gibt darin ein Kapitel über die Befruchtung von Feigen, wie jede Feige von ihrer spezialisierten Feigenwespe befruchtet wird. Es gibt fast 1.000 verschiedene Arten von Feigenwespen. Alle würden atomisiert sein – wie mein Mann und sein Buch.“

Bäume retten ist Pflicht

Der Feigenbaum, über den Hegel 1830 in seiner Vorlesung „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ doziert hatte (wobei es ihm jedoch nur um den „Befruchtungsvorgang“ mit der Feigenwespe ging), dient in Indien vielerorts als Dorfmittelpunkt. Er kann sich zu einem ganzen Hain auswachsen.

Der Banyanbaum, wie er dort heißt, (daneben gibt es noch eine Pappel-Feige, Ficus religiosa, unter der Buddha einst erleuchtet wurde) wächst laut academic.ru „epiphytisch auf einem beliebigen Wirtsbaum, der zunächst keinen Schaden nimmt, da der Banyan kein Schmarotzer ist. Er sendet Luftwurzeln aus, die sich mit der Zeit zu einem dichten Netz entwickeln. Haben die Wurzeln den Boden erreicht, kommt es zu einem Wachstumsschub. Dabei wird der Wirtsbaum langsam erdrückt und stirbt ab.“

Der FAZ-Korrespondent Thomas Ross hat 1991 ein Buch über Indien veröffentlicht, in dem der Subkontinent im Wesentlichen durch den Konflikt eines Dorfes im Bundesstaat Bihar mit der Staatsmacht erklärt wird. Die Dörfler wehren sich gegen den Bau eines Staudamms. Er würde für das Bruttosozialprodukt Bihars vielleicht gut sein, aber sie würden einen Teil der Felder verlieren. „Der Tod des heiligen Baumes. Ein Bericht aus dem innersten Indiens“ heißt das Buch, in dem der Autor die spirituellen Versammlungen unter dem Banyan-Baum schildert, die dem Widerstand der Dörfler vorausgingen. Und der begann mit der Nachricht, das die Staudammpläne vorsahen, auch noch den Platz ihres Banyanbaumes zu überfluten: „Nach einer alten indischen Tradition im Kampf für Bäume und Wälder banden sich die Freiwilligen an die Stämme.“ Der Widerstand endete dann auch am Banyanbaum – in einem „Blutbad“. Staudamm- oder Brunnenbau, darum ging es in dem Konflikt, das heißt um „Große Technik aus der Stadt oder Kleine Technik aus dem Dorf“.

Hierzulande lautet die Formel dafür: „Regional, saisonal, ökologisch und fair!“ Dies wurde Ende September auf dem Agrikulturform der Stiftung Partnerschaft mit Afrika in den Kreuzberger Prinzessinnengärten formuliert – von kritischen Landwirten aus Cotonou (Benin) und Brandenburg. In afrikanischen Dörfern steht im Mittelpunkt oft ein Mangobaum, wie der polnische Auslandsreporter Ryszard Kapuscinski berichtete.

Ein bisschen klingt solch ein baumzentriertes Gemeinschaftsgefühl auch noch in Erwin Strittmatters dreibändigem Roman „Der Laden“ – über sein Dorf in der Lausitz – an, wenn er darin die alte Linde thematisiert, die irgendwann einem Einkaufsladen weichen musste und dieser dann einem Supermarkt, der schließlich dichtmachte.

Dem sorbischen Schriftsteller Erwin Strittmatter ging es ähnlich wie dem friesischen Soziologen Ferdinand Tönnies, der sich gedanklich zwischen „Gemeinschaft [immer älter werdende Dorflinde] und Gesellschaft“ [immer größer werdende Lichtung] situierte. „Die Lichtung des Seins“ ist eines der „Schlüsselworte“ für Heidegger. Dazu heißt es bei einem Heideggerinterpreten: „‚Lichtung‘ verweist auf ‚Licht‘, ‚Licht‘ auf ,Sichtbarkeit‘ und ‚Sehen‘, auf jenes ‚Sehen der Phänomene‘, das Heidegger mit dem Sagen und dem Hören verknüpft.“ In den noch existierenden Gemeinschaften geschieht das „Sagen und Hören“ unter einem (heiligen) Baum, in den Gesellschaften auf einer „Lichtung“.

Die Japaner haben anscheinend einen Mittelweg gefunden. „Jeder liebt Bäume,“ schreibt Ben Richmond, „aber die Japaner folgen dieser Zuneigung mit unerreichter Gründlichkeit. Man nennt das ‚Shinrin-yoku: mit dem Wald eins werden und seine Atmosphäre aufsaugen‘. ‚Waldbaden‘ auf Deutsch. Es ist eine renommierte Forschungsrichtung. Sie untersucht zum Beispiel, ab wann schon ein einfacher Waldspaziergang gesundheitsfördernd wirken kann.

Auf uns Menschen haben nicht nur Waldspaziergänge beruhigende Auswirkungen, sondern sogar bereits Fotos von Wäldern. Eine von im Jahr 2009 in 24 Wäldern durchgeführte Studie mit dem Titel ‚Die physiologische Wirkung von Shinrin-yoku‘ listet die Vorteile des Waldaufenthalts auf: ‚Senkung der Cortisol-Werte, der Pulsfrequenz, des Blutdrucks sowie der Sympathikus-Aktivität, während die Aktivität unseres parasympathischen Systems zunimmt.‘ Schon nach 20 Minuten im Wald begannen die Probanden sich merklich zu entspannen.“

Im sibirischen sind auch Menschen, mindestens Nichtsibirier, angespannt, wie der sibirische Dichter und Sänger Jewgeni Jewtuschenko in seiner Biografie „Der Wolfspaß“ berichtet. Er macht sich darin über seine Freunde aus Westrussland lustig, die, wenn sie mit ihm einen sibirischen Wald betraten, plötzlich ganz ängstlich wurden – und überall Gefahren vermuteten.

Aber selbst für sibirische Völker, wie zum Beispiel die Nenzen, die an eine beseelte Natur glauben, ist der Wald „zu voll“. Sogar die Taiga-Selkupen am Fluss Tas schützen ihren fest bebauten Sommerplatz mit einem Holzzaun vor Waldgeistern, sie wollen „raus aus dem Wald“ – auf Gelichtetes?

Uns geht es auf der wachsenden Lichtung Berlin ganz anders. Auf dem langen Gang vom Eingang des U-Bahnhofs Hallesches Tor zum Bahnsteig beklebte man die Wände mit einer Waldtapete, damit der Gang nicht ganz so leer und trist wirkt. Und als die taz an der Friedrichstraße acht Bäume auf ihrem neuen Baugrundstück fällen lassen wollte, gab es Proteste. „Hände weg von unseren Bäumen!“ , hieß es in einem Flugblatt. An der Trasse für die A 100 hatten Umweltschützer einen Baum, der gefällt werden sollte, besetzt. „Ganz legal“, sagten die Grünen und fordern nun den Senat auf, die Strafanzeigen zurückzuziehen.

■ Helmut Höge bekommt am Montag in Hamburg den Ben-Witter-Preis. Wie die Zeit-Verlagsgruppe mitteilte, ehrt die Jury damit einen „unkonventionellen Gegenwartsbeobachter“.