Sirenengeheul für die Unsichtbaren

Lateinamerikaner und Spanier lassen sich beim Karneval der Kulturen als Illegale von der Polizei durch den Regen jagen. Sie geben den Menschen ohne Papiere ein Gesicht – und gewinnen damit zwei Preise im Wettbewerb. Ein lustig-ernstes Katz-und-Maus-Spiel, das manch ein Zuschauer verkennt

Mit einem Straßenumzug von 4.500 Akteuren hat der zwölfte Karneval der Kulturen am Sonntag seinen Höhepunkt erlebt. Rund 600.000 Besucher kamen zu dem Spektakel. Trotz kräftiger Regenschauer war die Stimmung wie in den Vorjahren ausgelassen und friedlich.

Attac wirft der Polizei jedoch vor, sie auf dem Umzug behindert zu haben. Laut einer Pressemitteilung wurden vier Aktivisten und ihr Pappdrache gleich zu Beginn des Umzugs gestoppt. Die Beamten nahmen die Personalien auf. Die Begründung habe gelautet: „Sie haben hier was mit G-8-Bezug dabei.“ Dazu Philipp Hersel von Attac Berlin: „Ein Schild mit der Aufschrift „G 8“ zu tragen reicht offenbar aus, um von der Polizei einer Straftat verdächtigt zu werden.“ ALL

VON ANTJE LANG-LENDORFF

Mit der Polizei haben sie offenbar nicht gerechnet. Rund 20 weißgekleidete Menschen mit Stoffmasken über dem Gesicht drängen sich um ein Schild. „Visum“ steht darauf, hellgrün schwebt es an einem Stock über ihren Köpfen. Sie strecken die Arme hoch, springen hinauf. Und kommen doch nicht dran. Plötzlich jault die Sirene. „Rennt, Polizei!“ ruft jemand. In Windeseile sind alle verschwunden.

Sowohl die Maskierten als auch die Polizisten sind Mitglieder der lateinamerikanischen Vereine „La Calaca“ und „El Patio“. Auf dem Umzug des Karnevals der Kulturen stellen sie jene Menschen in den Mittelpunkt, die sonst kaum wahrgenommen werden. „Es leben so viele Illegale in Deutschland. Aber anders als in Spanien spricht keiner darüber. Geschweige denn, dass man sie legalisiert“, sagt Carmen Rojas, einer der Organisatorinnen.

Auf der anderen Seite des Wagens kommen die Maskierten plötzlich wieder zum Vorschein – nun als Arbeitskräfte. Eine Putzfrau fegt den Asphalt. Ein Mann säubert die Glasscheibe des Führerhauses. Kellnerinnen bieten hölzerne Früchte feil. Bis wieder die Polizei auftaucht und sie vertreibt.

Karneval war immer auch ein Mittel der Schwachen, sich öffentlich Gehör zu verschaffen. Die Schwarzen nutzten ihn im Kampf gegen die Sklaverei, später gegen den Rassismus. Karneval hat ein subversives Potenzial. Beim Multikulti-Umzug in Berlin kam das bis jetzt wenig zum Tragen. Auch wenn Veranstalter Andreas Freudenberg meint: „Der Karneval ist in den letzten Jahren politischer geworden.“

Während Umweltschützer mit „Das Eis schmilzt“-Transparenten wedeln und bierernst rufen: „Jeder kann etwas tun“, bedienen sich die Leute von „La Calaca“ und „El Patio“ auch typisch karnevalesker Mittel. Sie inszenieren ihr Thema mit Humor und kehren die Wirklichkeit um. „Illegale tun im Alltag alles, um nicht aufzufallen. Sie fahren nie schwarz, sie gehen nur bei Grün über die Ampel“, erzählt Maite Lamuño von „La Calaca“, die auch Sozialarbeiterin im interkulturellen Frauenzentrum Susi ist. Heute sind alle Ampeln aus, die Unsichtbaren bekommen eine Bühne.

Monatelang bastelten die Organisatoren an ihrem Wagen herum. Die Seitenwände haben sie wie einen Container bemalt, in Orange. „Transglobal Import“ steht darauf, man erkennt die Schatten rennender Menschen. Als Masken haben sie einfache Waschbeutel mit Gesichtern verziert. Für ihren Wagen werden sie beim Wettbewerb den ersten Preis gewinnen, einen weiteren für die Gesamtformation. „Humor, die Darbietung und der politische Inhalt gehen zu gleichen Teilen in die Wertung ein“, heißt es in der Begründung.

Auch dem Publikum am Straßenrand gefällt das lustig-ernste Katz-und-Maus-Spiel. Viele lachen, sobald die Sirene angeht. Auf hochhackigen goldenen Schuhen tippelt Maite Lamuño die Zuschauerreihen entlang. „Sie nennen mich den Heimlichen, weil ich keine Papiere habe“, singt Manu Chao auf Spanisch aus den Lautsprechern. Jedes Mal, wenn die Wörter „heimlich“ und „illegal“ fallen, zeigt Maite Lamuño einem der Zuschauer ins Gesicht. Manche gucken erstaunt, andere grinsen.

In Deutschland leben vagen Schätzungen zufolge zwischen einer halben und einer Million Menschen ohne Papiere. Wie viele von ihnen stehen tatsächlich hier am Straßenrand? Wie viele wirken beim Umzug mit?

Ende der 80er-Jahre lebte die Spanierin Lamuño selbst zwei Jahre illegal in Großbritannien und Deutschland. Sie arbeitete schwarz in einem Kindergarten in Zehlendorf. Als sie endlich eine Aufenthaltsgenehmigung bekam, weinte sie vor Erleichterung. Und war gleichzeitig wütend. „Ich dachte, ich bin doch nicht anders, nur weil ich jetzt diesen Stempel habe.“

Es beginnt zu regnen. Die vermeintlichen Polizisten jagen den Maskierten weiter hinterher. Am Südstern, an der Zossener Straße. Ein Schwarzgelackter und seine Freundin reihen sich ein, rennen kreischend im Kreis. Manche Zuschauer amüsieren sich köstlich. Aber verstehen gar nicht, worum es geht. „Die haben eine Säge dabei. Die protestieren bestimmt gegen die Abholzung der Bäume“, glaubt eine ältere Berlinerin. Bei vielen kommt die Botschaft aber an. „Klasse, dass das mal jemand thematisiert“, sagt eine Frau und klopft einer Maskierten auf die Schulter.

Wer steckt wirklich hinter den Masken? Ein Illegaler sagte kurzfristig ab, er müsse über Pfingsten als Schmuckverkäufer Geld verdienen. Die anderen haben Papiere. Peruaner und Mexikaner, die mit Deutschen verheiratet sind. Eine Kolumbianerin, die gerade Asyl beantragt hat. Eine Geduldete darf eigentlich gar nicht hier sein, weil sie sich nicht zu weit von ihrem Wohnheim entfernen soll. Trotzdem ist sie gekommen, spielt ausgelassen auf einem gemalten Saxofon, reicht ein Tablett herum. Nur putzen will sie nicht, das macht sie zu oft auch in Wirklichkeit.

Am Rand stehen zwei Männer in Grün, mit gepolsterten Oberteilen und Stöcken an der Seite. Echte Polizisten. Mit regungslosen Mienen betrachten sie das Treiben der Maskierten. Der eine spricht leise in sein Funkgerät. Dann gehen sie weiter.

Der Regen wird stärker, die Zuschauer spannen ihre Schirme auf. Die Narren vorne im Zug machen immer weniger Späße. Bolivianerinnen heben tapfer ihre Röcke über die Pfützen. Nach fünf Stunden erreicht der Container das Ende der Strecke. „So, jetzt gibt es Papiere für alle“, sagt eine Frau, die Maske schon in der Hand. Sie hält das Visum-Plakat den anderen hin. Die wollen zugreifen. Doch im letzten Moment streckt sie es wieder unerreichbar hoch in die Luft und ruft: „Reingelegt!“