Sich einmischen

HAUSBESUCH Wie war es, ein jüdisches Mädchen in Deutschland zu sein? Bei Steffi Wittenberg in Hamburg

VON FRIEDERIKE GRÄFF
(TEXT) UND MIGUEL FERRAZ (FOTOS)

Hamburg, eine Klinkerhaussiedlung in Niendorf. Um die Ecke ist eine große Straße, aber wenn man abbiegt und in die kleine Seitenstraße abbiegt, ist es plötzlich ganz ruhig.

Draußen: Roter Backstein, schmucklos, aber nicht unfreundlich, weiße Gardinen hängen an den Fenstern, der Rasen vor dem Haus ist kurz gemäht und ein paar Hortensien stemmen sich gegen den Herbst.

Drin: Viele Bücher, eine Ausgabe vom Neuen Deutschland auf dem Couchtisch. Schlichte Holzmöbel aus den 60ern, wie sie jetzt in den hippen Vintage-Läden auftauchen. In der Diele hängt ein altes Zeitungsfoto von Steffi Wittenberg im gestreiften Kostüm und mit Federhut, neben ihrem Mann Kurt stehend. Aufgenommen worden ist es in einem Prozess, in dem den Wittenbergs in den USA unter McCarthy kommunistische Aktivitäten vorgeworfen wurden. „The government disagrees with some of their views“, steht darunter.

Erinnern: Sie vergesse so viel, sagt Steffi Wittenberg, 88, als ihr der Name einer Lehrerin von vor 70 Jahren nicht mehr sofort einfällt. Erinnern hat sie sich zur Aufgabe gemacht, als Zeitzeugin, die davon erzählt, wie es war, als jüdisches Mädchen von der allgemeinbildenden Schule abgehen und dann emigrieren zu müssen. Ihre beste Freundin wurde ermordet, ebenso viele ihrer Verwandten. Sie hat einen Stapel mit Fotos, Briefen, Pässen vor sich, den sie auch mit in die Schulen nimmt, wenn sie dort erzählt. Ins Poesiealbum hat auch ihre beste Freundin geschrieben. „Sie konnte so schön malen“, sagt Steffi Wittenberg, „das konnte ich nie.“ Zwei Tanten und ein Onkel haben eine Postkarte geschickt, als sie deportiert wurden. „Guste soll meinen Hut gut aufbewahren“, bat eine von ihnen.

Das Tagebuch: In ihr Tagebuch hat sie 1939, da war sie 13 Jahre alt, geschrieben: „Heute hat der Führer die Wehrmacht zu den Waffen gerufen, ausgerechnet an Tante Gretes Geburtstag.“ Ausgerechnet, schreibt sie, weil der Geburtstag deswegen nicht gefeiert wurde. Als sie das Tagebuch später ihren Kindern vorliest, findet sie das so unangenehm, dass sie es wegwirft.

Familie: Ihren Mann Kurt Wittenberg hat sie im Exil in Uruguay kennengelernt, in einem Jugendkurs des Antifaschistischen Komitees. Nach der Rückkehr nach Deutschland bekommt sie zwei Söhne, einer ist Richter geworden, der andere Regisseur. Einer der Enkel ist gerade als Freiwilliger mit Aktion Sühnezeichen in Israel und ruft während des Interviews an. „Ich bin ja tagsüber gut zu erreichen“, sagt Steffi Wittenberg, aber der Stolz scheint durch ihre Sprödigkeit hindurch.

Sich einmischen: Die Eltern von Steffi Wittenberg waren nicht politisch aktiv, gemeinsam mit Kurt Wittenberg, der in Uruguay eine Stelle als Maurer findet und Sekretär des Antifaschistischen Komitees wird, engagiert sie sich zunehmend. Sie besucht die Kurse des Komitees, später protestieren sie gemeinsam gegen die Rassentrennung in Texas, wohin sie Kurt gefolgt ist und wohin sich Verwandte geflüchtet hatten. „Es ging immer um Menschenrechte“, sagte Steffi Wittenberg. Später, als junge Mutter, hat sie neben der Arbeit als Sachbearbeiterin in einer Spedition noch Kabarett gemacht. „Die Un(i)formierten“ hieß die Gruppe, laut Steffi Wittenberg war einer der Kollegen hochbegabt, der Rest „Laien“. Ob sie einen Hang zum Schauspielen hatte? Eigentlich nicht, aber sie erinnert sich, dass sie als Kind einmal in der Tanzschule als Apfelsine aufgetreten ist.

Die jungen Leute: Wenn sie von der Geschichte ihrer Familie erzählt, haben die Schüler meist keine Fragen. Bei einer Freundin ist das anders, sie weiß nicht, woran es liegt. In der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, sind auch Jüngere, Leute um die 50. Es geht nicht nur ums Erinnern, sagt Steffi Wittenberg, es geht darum, Flagge gegen rechts zu zeigen. Wenn sie mit Leuten ihrer Generation spricht, die unter den Nazis in Deutschland geblieben sind, tauchen manchmal Lücken auf, Bücher von verfemten Autoren, die sie gelesen hat, nicht aber die Dagebliebenen.

Die Freunde: Viele sind im Ausland, in Basilien, Uruguay oder den USA. Steffi Wittenberg schreibt ihnen eher eine E-Mail als einen Brief. Oft telefonieren sie. Das E-Mailen hat ihr die Schwiegertochter gezeigt.

Heimat: Eigentlich wollten sich die Wittenbergs nach der Ausreise aus den USA in der DDR niederlassen, um dort beim friedlichen Aufbau Deutschlands zu helfen, aber die beschied ihnen, sie sollten das in Westdeutschland tun. Also sind sie nach Hamburg gegangen. Eine Tante hat sie am Schiff abgeholt, sie hatten ein Zimmer in einem früheren jüdischen Altenheim. Als sie beim Umzug in die erste eigene Wohnung einen Disput über die Miete haben, sagt die Vermieterin: „Jetzt werden die Juden schon wieder frech.“ Was sie noch immer wundert: dass das eine Frau war, deren einziger Sohn in Russland umgekommen war. Ob Deutschland Heimat für sie ist? „Wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft spielt, bin ich dafür, dass sie verliert“, sagt sie.

Religion: Ihre Eltern waren nicht streng religiös, sie selbst hatte als 12-Jährige eine religiöse Phase, in der sie in die orthodoxe Synagoge zu Rabbiner Joseph Carlebach ging. Sie hörte auf, als es in der Schule um die Entstehung der Erde ging und sie das, was sie darüber hörte, nicht in Einklang bringen konnte mit den Lehren aus dem Religionsunterricht.

Das Alter: „Ich höre nicht gut, ich laufe nicht gut, aber sonst geht es mir blendend“, sagt sie.

Angst haben: „Ich bin jemand, der das Schlimmste erwartet, eigentlich war ich immer ein ängstlicher Mensch“, sagt sie. Und dass sie doch immer gehofft hat, dass alles gut wird. Es scheint, dass sie meist zu beschäftigt war, als dass sich die Angst bei ihr hätte niederlassen können.

Nächstes Mal treffen wir Vladislav Marinov in Berlin. Sie möchten auch besucht werden? Schicken Sie eine Mail an hausbesuch@taz.de