Schlüssel zu einem verlorenen Haus

FILME AUS FLÜCHTLINGSLAGERN Die UN-Flüchtlingshilfe Nahost hat einen Kurzfilmwettbewerb für palästinensische Jugendliche ausgelobt. Die Ergebnisse wurden jetzt in Ramallah vorgestellt

„Wir müssen die Fehler früherer Generationen korrigieren“

AFNAN AHMAD ABDALLAH

Der neunköpfige Kinderchor des Kamandjati-Theaters in Ramallah wollte gerade den ersten Ton anstimmen, als der Muezzin lautstark mit seinem Abendgebet dazwischenfunkte. Rund einhundert Gäste warteten teils belustigt, teils peinlich berührt darauf, dass die Preisverleihung für die drei besten Kurzfilme des von der UNRWA (UN-Flüchtlingshilfe Nahost) ausgeschriebenen Wettbewerbs beginnen würde. Anlässlich des Weltflüchtlingstags am Montag feierte eine Auswahl der über 120 an dem Wettbewerb teilnehmenden Filme Premiere. Geladen waren hohe Vertreter von UN und EU. Nicht dabei waren die drei jungen Filmemacher aus Syrien und dem Libanon, deren Arbeiten schließlich ausgezeichnet wurden. Sie durften aus den mit Israel verfeindeten Ländern nicht ins besetzte Westjordanland reisen.

„Dieser Tag gilt denen, die nicht zu Hause sind“, erinnerte Filippo Grandi, Generalbeauftragter der UNRWA, an den Anlass für die Feierlichkeiten, bei denen diejenigen, um die es ging, paradoxerweise kaum vertreten waren. Die Kinder des Kamandjati-Chors freilich gehen fast ausnahmslos auf UNRWA- Schulen. Und auch die Musiker kommen zum Teil aus Flüchtlingslagern im Westjordanland.

„Wir haben die jungen Flüchtlinge aufgefordert, uns über ihr Leben zu berichten. Denn sie haben eine Chance verdient, sich der Welt mitzuteilen“, erklärte Grandi das Ziel des Kurzfilmwettbewerbs. Die jungen Filmemacher stellen sich, was die Wahl der Thematik, die Stilform und das Genre der Filme betrifft, auf sehr unterschiedliche Weise ihrer Aufgabe. Es sind Dokumentationen und Experimentalfilme dabei, Animationen und sogar Musikvideos. Die meisten der Wettbewerbsteilnehmer gehen noch zur Schule und verfügen kaum über professionelles Wissen und technische Möglichkeiten. Damit erklärt sich das sehr unterschiedliche qualitative Niveau der Filme. In den kommenden Wochen soll ein Teil der Beiträge, die aus Syrien, Jordanien, dem Libanon und den Palästinensergebieten stammen, per YouTube im Internet verbreitet werden.

Die Filme der drei Preisträger liefen vor dem Hintergrund eines noch unverputzten Neubaus, von dessen Dach aus ein paar Kinder neugierig die Veranstaltung verfolgten. Niemand könne die Botschaft der Flüchtlinge besser verbreiten als sie selbst, stellte John Gatt-Rutter fest, stellvertretender Chef der EU-Vertretung in Jerusalem. „Die EU ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die palästinensischen Flüchtlinge – die größte Flüchtlingsgruppe weltweit – nicht in Vergessenheit geraten“, sagte er.

Knapp 5 Millionen Palästinenser werden als Flüchtlinge von der UNRWA betreut, deren größter Geldgeber wiederum die EU ist. „Hinter den Zahlen von Armut und Arbeitslosigkeit stecken Gesichter, Namen und Geschichten“, erinnerte Gatt-Rutter, der darauf hofft, dass „die Kurzfilme ein größeres Publikum erreichen werden“. Zu den Zuschauern werden zuallererst die Flüchtlinge selbst gehören. Im Gazastreifen sind bereits Vorführungen geplant.

„Wir haben uns unser Leben nicht ausgesucht“, sagt Afnan Ahmad Abdallah in ihrem Kurzfilm. „Aber wir müssen die Fehler früherer Generationen korrigieren.“ Afnans Großvater bewahrt den Schlüssel zu seinem Haus in Hebron, einem Ort im Westjordanland, bis heute in einer Holzschachtel auf. „Wir vermissen unsere Heimat Palästina“, sagt die 15-Jährige über ein Land, das sie noch nie besucht hat – sie lebt in einem Lager in Jordanien. Sie möchte Sprachen lernen und studieren, und sie wünscht sich, „dass der Vater eine gute Arbeit hat“. Afnan Ahmad Abdallahs Film trägt den gleichen Titel wie der Wettbewerb selbst: „Meine Welt“.

Zweimal geflohen

Gewinner wurde schließlich ein animierter Film mit dem Titel „Der unglaubliche Orangenpresser“. Die 1.200 US-Dollar, mit denen der erste Preis dotiert ist, gehen an die 25-jährige Regisseurin Tahani Awad aus dem libanesischen Flüchtlingslager Nahr al-Bared. Mit Hilfe kleiner, aus Hölzern gebastelter Figuren erzählt sie die Geschichte einer Familie, die zweimal flüchten musste. Zum ersten Mal im Verlauf des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1948 und zum zweiten Mal vor vier Jahren, als bei Kämpfen zwischen der radikalen Palästinenserorganisation Fatah al-Islam und der libanesischen Armee das Lager fast vollständig zerstört wurde.

In Awads Film kommen die Familienangehörigen im Anschluss an die blutigen Auseinandersetzungen zu ihrem Haus zurück. Sie wollen dort Kleidung, Möbel und andere Dinge bergen. Doch das Einzige, was sie unter den Trümmern noch finden, ist ein Orangenpresser aus schwerem Eisen. SUSANNE KNAUL