Wir, die Betrogenen

Im Radrennsport jagt ein Doping-Geständnis das nächste. In Wahrheit haben die SportlerInnen nur gemacht, was ihnen ihr Beruf nahelegt: besser als andere zu sein

Das Medienmagazin „Zapp“ titelt „Kumpanei – Der Doping-Sumpf und die Journalisten“ und wird dabei wie gewohnt auch dem eigenen Laden auf die Füße treten (NDR, 23.00 Uhr). Und Frank Plasberg diskutiert hart, aber fair zum Thema „Die gedopte Gesellschaft – wenn der Zweite schon Verlierer ist“ (WDR, 20.15 Uhr). STG

VON JAN FEDDERSEN

Einer fehlt noch. Einer, von dem zu erwarten sein muss, dass er auspackt. Bekennt. Gesteht. Erklärt. Wie es so war, Anfang der Neunziger, kurz nach der Wende, gerade den Schock verdaut, nicht mehr das allseits betreute Objekt eines Sportsystems zu sein, das wie kein anderes medaillensatte Ausbeute generierte. Der soll jetzt reden, dieser Mann, den sein Milieu, seine Sportkameraden „Ulle“ rufen, der abseits der Kumpanei von Kollegen, Trainern, Betreuern und Fachjournalisten schlicht Jan Ullrich heißt und Radrennfahrer war.

Die meisten anderen haben schon gebeichtet, nur er eiert noch herum, der berühmteste im Reigen der deutschen Radrennfahrer. Das Idol der Neunziger, Sieger bei der Tour de France 1997, der Athlet, der eigentlich zum Moppeligen neigt und seit zehn Jahren nie wieder auf das Körpergewicht kommen konnte, mit dem er wie eine krass muskulierte Gazelle über vieltausend Meter hohe Alpenpässe in Frankreich radeln konnte, schneller als andere, siegreicher als sie.

Der drückt sich windelweich um das herum, was wir, das Publikum, unter Wahrheit verstehen. Ein Geständnis, das etwa so lauten könnte: „Ja, ich habe zeit meines Lebens ohne Doping nicht Sport treiben können. Und ich habe gelogen, wie meine Kollegen, abgestritten und abgetan, sogar meine Kritiker mit juristischer Hilfe mundtot zu machen versucht. Kein Sieg wäre ohne pharmazeutische Hilfe möglich gewesen. Ich habe es getan, weil es alle taten. Und weil niemand uns was nachweisen konnte. Wäre ich nicht bereit gewesen, meinen Körper stark auszureizen, hätte man mich wie eine Memme aus dem Kader gestrichen.“

Vielleicht würde er noch dies sagen: „Im Sport ist es eben so. Und für mich, der seit der Wende für sich selbst sorgen musste, der nicht darauf bauen konnte, von einem System aufgefangen zu werden, das mich wie ein Kind schützt, war es wichtig, ein Bein auf den Boden zu bekommen. Was hätte ich denn tun sollen? Lance Armstrong hat doch auch nie etwas zugegeben.“

Armstrong, das Stichwort. Der Amerikaner. Sagenumwoben, seiner vielen Tour-Siege wegen. Vermutlich nicht so bescheuert wie sein Nachfolger Floyd Landis im letzten Jahr, der kurz vor dem Ende der französischen Rundfahrt einen schwachen Tag hatte, im Klassement zurückfiel – und anderntags wie ein mit Frischzellen aufgepeppter junger Gott plötzlich allen anderen wie aus einer ganz anderen Welt davonfuhr, jedoch als Doper erwischt wurde. Armstrong, zeitlebens Jan Ullrich im Wege, um so verehrt und geachtet zu werden wie Max Schmeling, Franz Beckenbauer, Stefanie Graf, Boris Becker oder Rosi Mittermaier, muss der perfekteste unter allen modernen Radrennfahrern gewesen sein. Ein Athlet, der selbst auf den höchsten Gipfeln nach 200 Kilometern extremer Anstrengung ankam, als sei er gerade nur um die Ecke gegangen, um eine Tüte Milch zu kaufen – leicht, ohne Spuren von Mühe und Mühsal, wie beiläufig, nicht schwer atmend.

Auf Jan Ullrichs Geständnis muss letzten Meldungen zufolge einstweilen gewartet werden, denn noch sitzt ihm die Staatsanwaltschaft im Nacken, einen Betrugsvorwurf ihm gegenüber verfolgend. Delikaterweise kann diese Angst vor strafrechtlichen Folgen bald hinfällig sein, denn offenkundig könnte Ullrich gar kein Betrüger sein. Betrug liegt ja immer erst vor, wenn einer getäuscht wurde – aber der Arbeitgeber dieses schon jetzt als gestrauchelt zu geltenden Sportlers hat womöglich alles gewusst.

Einen Betrogenen gibt es jedoch trotzdem – und das sind wir, das Publikum, das im Sport eine Welt erkennen wollte, die heiler ist als die echte, in der es gerechter zugeht. Eine Welt, „wo der Körper nicht lügt“, wie der französische Filmregisseur Jean-Luc Godard vor sechs Jahren in einer Mischung aus dem Prinzip Hoffnung und Naivität zu Protokoll gab. Eine knappe Sentenz, in der wir uns, die sich jetzt getäuscht fühlen, auf Anhieb bitter wiedererkennen können. Eine Sonderwelt, in der eine Sportlerin oder ein Sportler aus einem armen Land nicht weniger Chancen auf Titel und Medaillen hat als einer oder eine aus einem reichen Land. In der eine Schwimmerin aus der Dominikanischen Republik oder eine algerische Mittelstrecklerin plötzlich olympische Goldmedaillen gewinnen. In der eine 16-jährige Hochspringerin namens Ulrike Meyfarth 1972 alle Favoritinnen hinter sich lassen konnte und gegen alle Erwartungen Gold holte. In der, kurz gesagt, Favoriten gestürzt werden können, weil die Tagesform eines Außenseiters bloß besser war.

Eine Welt, in der die übliche Währung des Politischen, Ökonomischen oder Ästhetischen wertlos wird: mehr Waffen, größere Abschreckung; mehr Rohstoffe, freundliche Nachbarn; mehr Geld, mehr Einfluss. Nein, hier ist ein Land wie Burundi nicht minder von Rang wie Russland. Sport hat immer von der Imagination gelebt, über das Training eines Körpers für eine spezifische Übung die geltenden Gesetze von Macht und Ohnmacht außer Kraft setzen zu können. Eine Imagination, in der kräftige bis fette Frauen, pickelige bis grotesk aufgeschwemmte Männer besser sind, als es Kandidatinnen von „Germany’s Next Topmodel“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ je sein könnten. Ein Universum, in dem die Standards dessen, was als schön und ansehnlich gilt, ausgehebelt scheinen: Im Augenblick eines Triumphs, eventuell sogar gegen alle Erwartung abgerungen, besser zu sein als alle anderen – Boris Becker zehrt von diesem Bild seit seinem ersten Wimbledonsieg im Juli 1985. Wer hätte damals gedacht, dass er gegen den hochfavorisierten Kevin Curren gewinnen würde?

Der Sport lebt von diesem „David gegen Goliath“-Motiv, und dies erst recht, seit dieses klassische Setting vom Aufstand der Außenseiter gegen die Übermacht als solcher nicht mehr allein männlich begriffen werden kann. Frauen sind im Sport so gleichberechtigt wie nirgends sonst. Dass die weibliche Seite des Sports gern und zunehmend durch medizinisch-chemische Helferchen befördert wurde, ist uns, dem Publikum, nie verborgen geblieben. Absurde Chemiemastmaschinen, die plötzlich, in den Achtzigern, allen anderen davonliefen, Jarmila Kratochvilova, Marita Koch, Marlies Oelsner-Göhr, Evelyn Ashford, all die Chinesinnen, deren läuferische Güte angeblich durch die Zufuhr von wahrscheinlich ökologisch gewonnenem Schildkrötenblut ermöglicht wurde. In Wahrheit, wir ahnten es, war alles Lug und Trug. Viele der leichtathletischen Weltrekorde, die in jenem Jahrzehnt vor dem Fall des Eisernen Vorhangs erbracht wurden, haben bis dato Gültigkeit: niemand von uns, der ernsthaft annimmt, dass sie ehrlich erzielt werden konnten.

Dass allein diese Sätze von der tiefen Illusionsliebe des Publikums zeugen, ist offenkundig. Sport, Leistungssport, Leibesertüchtigungen, mit denen sich Geld verdienen lässt, konnten früher nur die Domäne von Adeligen und dem Großbürgertum sein. Die hatten die Mittel, die Ihren reiten, laufen, schwimmen, segeln, fechten und springen zu lassen. Der proletarische Sportler musste neidisch werden – er hatte nur die Ehre, aber was nützte die ihm, hatte er den Zenit seiner körperlichen Leistungsfähigkeit hinter sich gelassen?

Professionalismus war ja früher verboten – der Amateurparagraf als Schutz der Klassenverhältnisse im Sport: den Reichen ein Zeitvertreib, den Armen ein Luxus. Der Schriftsteller Per Olov Enquist erzählt in seinem vor allen Dopingskandalen im Jahre 1971 verfassten Roman „Der Sekundant“ von einem schwedischen Hammerwerfer, der sein Sportgerät um wenige Gramm manipulierte – und prompt den Weltrekord warf. Tief war sein Fall, als dieses unnötige Delikt entdeckt wurde, denn die Figur, der Athlet Mattias Engnestam, war ja stark genug, aber er wollte ganz sicher gehen. Bloß nicht verlieren, auf keinen Fall geschlagen werden: der Sieg als Droge, der Kampf um ihn als persönliche Existenzfrage, medial genutzt, nationalistisch aufgeheizt.

Die Zuschauer, die sich für Olympische Spiele Urlaub nehmen, die jeder Hochkultur den Kampf um Siege vorziehen, war das lieb – jeder konnte, wenn er oder sie wollte. Wahrscheinlich wäre auch ein Jan Ullrich, wären all die anderen Radrennfahrer, Leichtathleten, Schwimmer, Gewichtheber und Langläufer ohne chemische Mast Spitzenkräfte ihrer Disziplinen geworden. Wo aber jeder dopt, wo alle wissen, dass geschummelt wird, wird einer, der sich altmodisch auf das Wahre und Schöne verlegt, leicht zum Deppen: ausgesiebt, weil keine Leistung erbringend.

Es wäre ein Leichtes, die Position einzunehmen, wenn schon alle schummeln, aber nicht betrügen, weil eben alle nur so tun, als ob, dann doch das Manipulieren freizugeben: Free dope? Es wäre der Bankrott des Sports schlechthin – weil er doch davon lebt, die echten Weltverhältnisse wenigstens „one moment in time“ suspendieren zu können. Gewinnen würde nur noch, wer sich die besten Mittel zuzuführen erlauben könnte. Nicht mehr Talent und die Begabung, im entscheidenden Moment so etwas wie Magie entfalten zu können: gegen alle Wahrscheinlichkeit alle Welt zu besiegen.

Innenminister Wolfgang Schäuble hat völlig recht: weshalb Tränen weinen um Sportler, die jahrzehntelang gelogen und uns als Auditorium betrogen haben? Warum so etwas wie über Amnestie diskutieren, wo es doch vordringlich zu fragen gilt, ob dieser Radrennsport deutscher Provenienz in all den Jahren mit Hilfe von Steuergeldern mindestens eine gewisse Anschubfinanzierung erhalten hat?

Und warum zur Tagesordnung zurückgehen, da doch SportlerInnen, die nicht dopen wollten, jetzt verständlicherweise klagen, nie eine Chance gehabt zu haben? Man möchte schon alles genau wissen, wenigstens, um die echten HeldInnen weiter verehren zu können. Radsportler, so viel kann gewusst werden, müssen sämtlich aus der Hall of Fame gestrichen werden.