Tja, Freimarkt (6): Helene F. Thompson
: Dekadent und depraviert

Einmal im Jahr ist Freimarkt – aber muss man darüber schreiben? Kommt auf die Perspektive an, beweist die taz.bremen-Serie.

Für die taz.bremen sollte ich in den nächsten 72 Stunden die „Halle 7“ besuchen. Zusammen mit Ralph Steadyman, einem englischen Zeichner aus London, sollten wir passende Modelle für Illustrationen von dem perfekten Freimarkt-Gesicht finden. Wir waren gekommen, um die symptomatische Fratze der Bestie „Freimarkt Party – mit Blast und DJ Toddy“ auf Papier zu bannen.

Alles, was ich über Steadyman wusste, war, dass dies sein erster Besuch auf dem Freimarkt war. Und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Sorgen machte ich mir darüber. Würde er dem schrecklichen Kulturschock gewachsen sein, den er zweifelsohne erleidet, wenn er frisch aus London in den besoffenen Halle-7-Mob gesteckt wird? Keine Ahnung.

Vor dem Betreten der Bürgerweide riet ich ihm: „Tu einfach so, als würdest du eine große Outdoor-Irrenanstalt besuchen. Wenn diese Verrückten außer Kontrolle geraten, strecken wir sie einfach mit Pfefferspray nieder.“ Ich zeigte in Richtung Halle 7: „Das ganze Ding wird voll von Leuten sein, Viertausend oder so, und die meisten von ihnen sind sturzbesoffen. Einfach fantastisch – Hunderte trampeln ohnmächtig, heulend und kopulierend aufeinander herum und attackieren sich gegenseitig mit Bierflaschen. Wir müssen unbedingt da rein, wenn wir Leute beobachten wollen, aber es ist schwer, sich da drinnen zu bewegen, zu viele Leichen.“

Ich zuckte mit den Achseln und sagte: „Tausende tobende, stolpernde Schnapsleichen, die wütender und wütender werden, während sie mehr und mehr Geld verschwenden. Gegen Mitternacht saufen sie beidhändig Bier und Schnaps und kotzen sich zu Schlagermusik gegenseitig an. Der Boden wird rutschig sein von all der Kotze. Leute fallen hin und greifen nach deinen Beinen, um nicht totgetrampelt zu werden. Besoffene pissen sich ein, während sie für das nächste Bier anstehen.“

Er starrte stur geradeaus und nickte. Keiner von uns hatte irgendwelche illegalen Drogen mitgebracht, und so mussten wir mit Alkohol über die Runden kommen.

Wir entschlossen uns, reinzugehen. Es sollte die letzte kohärente Entscheidung sein, die wir in den nächsten 72 Stunden treffen konnten. Der Rest verschwimmt im Wahnsinn. Ein bösartiger, besoffener Albtraum. Es sind derartig schreckliche Dinge passiert, dass ich mich nicht mal dazu zwingen kann, überhaupt darüber nachzudenken, geschweige denn, sie aufzuschreiben.

Lediglich ein paar meiner Notizen konnte ich noch entziffern: Nicht viel Energie in diesen Gesichtern, nicht viel Neugier. Sie leiden im Stillen, wissen nichts anzufangen mit dem Leben jenseits der 30. Keine Spur von der passenden Visage.

Als ich jedoch mit halboffenen Augen wieder zu mir kam, sah ich sie: eine aufgedunsene, säufergesichtige, krankhafte Karikatur – es war die schreckliche Cartoon-Version eines alten Schnappschusses in einem Familienalbum einer einst glücklichen Mutter. Eben das Gesicht, nach dem wir gesucht hatten – und es war, natürlich, mein Spiegelbild.